Umfassende Demokratie:  Die Antwort auf die Krise der Wachstums-und Marktwirtschaft


Einleitung


printable version

 

Der Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ reflektiert nicht, wie dies von seinen Ideologen gern gefeiert wird, den „Triumph des Kapitalismus“. Auch rechtfertigt er natürlich kein gesellschaftliches System, das in seiner gegenwärtigen Ausprägung die übergroße Mehrheit der Weltbevölkerung zu Armut und Unsicherheit verdammt und den Planeten mit einer ökologischen Katastrophe bedroht. Des Weiteren beweist es keinen historischen Sieg des westlichen Staatssozialismus über den östlichen wie die Sozialdemokraten sich zu erklären beeilten. Die Sozialdemokratie, in der Form, in der sie das Vierteljahrhundert nach dem 2. Weltkrieg dominiert hat (staatliche Verpflichtung auf den Wohlfahrtsstaat, Vollbeschäftigung und Umverteilung des Einkommens und des Wohlstands zugunsten der schwächeren gesellschaftlichen Gruppen) ist tot und wurde durch den gegenwärtigen neoliberalen Konsens ersetzt („Sicherheitsnetze“, flexible Arbeitsmärkte und die Umverteilung des Einkommens und des Wohlstands zugunsten der privilegierten gesellschaftlichen Gruppen).

Was deshalb der Niedergang des „real existierenden Sozialismus“ und der parallele Zusammenbruch der Sozialdemokratie gezeigt haben, ist die endgültige Auflösung des Staatssozialismus, das will heißen, der historischen Tradition, die auf die Eroberung der Staatsmacht abzielte, entweder durch legale oder durch revolutionäre Mittel, als notwendige Voraussetzung um einen radikalen gesellschaftlichen Wandel hervorzubringen.

Bereits vor dem aktuellen Niedergang des Staatssozialismus (aus Gründen, die mit seinen eigenen Widersprüchen zusammenhängen genauso wie auf Grund struktureller Veränderungen im System der Marktökonomie, die wir im ersten Teil dieses Buches aufzeigen werden) wurde es offensichtlich, dass sich das staatssozialistische Projekt grundsätzlich nicht mit der Forderung vereinbaren ließ, Bedingungen zu schaffen, die eine gleiche Teilhabe an politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Macht aller Bürgerinnen und Bürger ermöglichten. Staatliches Eigentum und die Kontrolle über die wirtschaftlichen Ressourcen, selbst wenn sie zur Sicherung des Arbeitsplatzes und zu nennenswerten Verbesserungen in der Umverteilung von Einkommen und Wohlstand führten, erwiesen sich letztlich als unangemessen, um eine wirtschaftliche Demo­kratie zu schaffen, speziell um einen gleichen Anteil an wirtschaftlicher Macht zu ermöglichen; die Bedingungen, die für einen gleichen Anteil an der politischen Macht nötig gewesen wären, seien hier erst gar nicht erwähnt.

Des Weiteren hat der Staatssozialismus keinen nennenswerten Fortschritt in der Entwicklung von demokratischen Bedingungen in der gesellschaftlichen Sphäre allgemein erreicht, also im Haushalt, am Arbeitsplatz, in den Ausbildungssituationen usw.

Am Anfang eines neuen Jahrtausends steht deshalb die Forderung nach der Entwicklung eines neuen Freiheitsprojekts, das sowohl die Synthese, wie die Überwindung der großen gesellschaftlichen Bewegungen für einen Wandel in diesem Jahrhundert repräsentiert. Aus diesem Grund kann die Bedeutung von Demokratie heute nur von der Synthese der beiden prägendsten historischen Traditionen abgeleitet werden, namentlich der demokratischen und der sozialistischen mit den radikal-grünen, feministischen und libertären Traditionen. Die erstere Tradition definiert den politisch und wirtschaftlichen Inhalt der Demokratie („direkte Demokratie“ und „Wirtschaftsdemokratie“) und die letztere definiert ihren ökologischen und gesellschaftlichen Inhalt („ökologische Demokratie“ und „gesellschaftliche Sphäre der Demokratie“, d.h. Demokratie am Arbeitsplatz, im Haushalt etc.). Das neue ‚Freiheitsprojekt“ kann nur existieren, wenn es sich als Projekt für eine „umfassende Demokratie“ auf die öffentliche Sphäre ausdehnt, - über den traditionell politischen Bereich hinaus auf den ökonomischen und die breiter gefassten gesellschaftlichen Bereiche.

Es ist deshalb offensichtlich, dass eine umfassende Demokratie die Abschaffung ungleicher Verteilung von politischer und wirtschaftlicher Macht und die damit verbundenen Vermögens- und Eigentumsbeziehungen genauso bedeuten muss, wie die Abschaffung der hierarchischen Strukturen im Haushalt, am Arbeitsplatz, am Ausbildungsplatz und weiteren gesellschaftlichen Bereichen. Mit anderen Worten beinhaltet sie die Beendigung von Herrschaftsbeziehungen auf der gesellschaftlichen Ebene, sowie ein Ende der Vorstellung, die Natur zu beherrschen. Es ist gleichermaßen klar, dass eine umfassende Demokratie nichts mit dem zu tun hat, was heute als „Demokratie“ durchgeht, wobei es sich in Wirklichkeit um liberale Oligarchien handelt, die sich auf ein System der Marktwirtschaft und liberaler „Demokratie“ begründen. Weiter hat die umfassende Demokratie, wie sie in diesem Buch vorgeschlagen wird, sehr wenig mit den verschiedenen Versionen „radikaler“ Demokratie zu tun, wie sie heute von der zivilgesellschaftlichen Linken befürwortet werden. Wie ich in dem Buch zu zeigen versucht habe, ist der zivilgesellschaftliche Ansatz sowohl a-historisch wie - im negativen Sinn des Wortes - utopisch. Er ist a-historisch, weil er die strukturellen Veränderungen außer Acht lässt, die zur internationalisierten Marktwirtschaft geführt haben und zu der davon abhängigen Machtlosigkeit von unabhängigen Institutionen und Körperschaften (Gewerkschaften, lokale Wirtschaft, Bürgerbewegungen etc.). Er ist utopisch, weil innerhalb dieses gegenwärtigen institutionellen Rahmens der globalisierten Marktwirtschaft und der liberalen Demokratie, der von der zivilgesellschaftlichen Linken als Grundlage akzeptiert wird, der Ausbau von autonomen Institutionen nur bis zu dem Grad möglich ist, wie sie der Logik und der Dynamik der Marktwirtschaft nicht entgegenstehen.

Aber wenn eine „radikale Demokratie“ unter den heutigen Bedingungen konzentrierter und wirtschaftlicher Macht utopisch im negativen Sinn des Wortes ist, ist die umfassende Demokratie definitiv mehr als nur eine Utopie im Sinn einer idealen Gesellschaft. Ein Befreiungsprojekt ist keine Utopie, wenn sie auf der heutigen Realität basiert und zur selben Zeit die Unzufriedenheit mit wesentlichen gesellschaftlichen Bereichen und ihrem expliziten oder impliziten Wettbewerb in der bestehenden Gesellschaft ausdrückt. Wie in diesem Buch zu zeigen versucht wird, liegen die Wurzeln der heutigen multidimensionalen (ökologischen, wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen, kulturellen) Krise in der nicht-demokratischen Organisation der Gesellschaft auf allen Ebenen, in gewissem Sinn ist es die Konzentration der Macht in den Händen von verschiedenen Eliten, die die Ursache für jeden Aspekt dieser Krise ausmacht.

Auf diese Weise ist es die Konzentration wirtschaftlicher Macht als Resultat der Warenbeziehungen und der auf dem Prinzip „Wachstum oder Tod“ beruhenden Dynamik der Marktwirtschaft, die zu der gegenwärtigen Wirtschaftskrise geführt hat. Diese Krise drückt sich hauptsächlich durch die unablässig sich öffnende Schere aus, nicht nur zwischen Nord und Süd, sondern auch zwischen den Eliten und dem Rest der Gesellschaft innerhalb des Nordens und des Südens. Es ist die Konzentration der wirtschaftlichen Macht in den Händen der Wirtschaftseliten, die der gesellschaftlichen und kulturellen Krise Nahrung gibt, die sich im parallelen Anwachsen von der Dialektik der Gewalt, sowohl personeller wie kollektiver, genauso ausdrückt wie im Drogenmissbrauch, in allgemeiner gesellschaftlicher Nicht-Verantwortlichkeit oder im Problem kultureller Homogenität.

Des Weiteren ist es die Konzentration politischer Macht in den Händen von professionellen Politikern und verschiedenen „Experten“, die Politik in Staatspolitik transformiert haben, aus der die Krise traditioneller Politik resultiert. Die wachsende Parteiverdrossenheit der Bürger, ob als Mitglieder oder Wähler drückt dies aus. Zuletzt kann die Tatsache, dass die hauptsächliche Form der Macht innerhalb des Bezugsrahmens der Wachstumswirtschaft die wirtschaftliche ist und dass die Konzentration auf die wirtschaftliche Macht die herrschenden Eliten in einen fortwährenden Kampf verwickelt, die Menschen und die Natur zu beherrschen, viel über die gegenwärtige ökologische Krise erklären. Mit anderen Worten, um die ökologische Krise zu verstehen, sollten wir uns nicht nur auf das vorherrschende Wertesystem beziehen und die daraus resultierenden Technologien auch nicht nur auf die Produktionsverhältnisse beschränken. Wir sollten sie stattdessen auch auf die Herrschaftsverhältnisse richten, die eine hierarchische Gesellschaft charakterisieren, die auf einem System der Marktwirtschaft und auf der impliziten Idee die Natur zu beherrschen beruht. Es ist kein Zufall, dass die Zerstörung der Umwelt während der Lebenszeit der Wachstumswirtschaft in beiden Versionen, der marktwirtschaftliche und der staatsozialistischen, weit über den kumulierten Schaden hinausgeht, den frühere Gesellschaften der Umwelt angetan haben.

Deshalb drückt das Projekt für eine umfassende Demokratie nicht nur das höchste menschliche Ideal für Freiheit im Sinne individueller und kollektiver Autonomie aus, sondern es ist vielleicht auch der einzige Weg aus der gegenwärtigen multidimensionalen Krise.

Im ersten Teil des Buchs wird die Entwicklung des Systems der Marktwirtschaft und des Nationalstaats in den letzten paar Jahrhunderten diskutiert und es wird der Prozess untersucht, der von der liberalen Phase der Marktwirtschaft zur gegenwärtigen neoliberalen internationalisierten Phase führte. Es wird gezeigt, dass der gegenwärtige neoliberale Konsens kein konjunkturelles Phänomen ist, sondern die Beendigung eines Prozesses, der vor fast zwei Jahrhunderten begonnen hat, als die Durchdringung der Wirtschaft durch den Markt in Gang gesetzt wurde; das bedeutet, wir untersuchen den historischen Prozess, der die gesellschaftlich kontrollierte Ökonomie der Vergangenheit zur Marktwirtschaft der Gegenwart transformiert hat.

In diesem Zusammenhang war der Etatismus - die Periode aktiver Staatskontrolle der Wirtschaft und extensiver Eingriffe in die Selbstregulierungskräfte des Marktes, die darauf abzielten, den Grad wirtschaftlicher Aktivität direkt zu bestimmen - ein historisch kurzes Zwischenspiel im Prozess der Ausbreitung der Marktwirtschaft, das in den 70er Jahren endete, als der Etatismus der wachsenden Internationalisierung der Marktwirtschaft nicht mehr adäquat war (Kapitel 1).

Als Nächstes wird zu zeigen versucht, dass der Aufstieg der Wachstumswirtschaft in diesem Jahrhundert, d.h. das System der ökonomischen Organisation, darauf abzielt, das wirtschaftliche Wachstum zu vergrößern, und dass dies in der kapitalistischen und der „sozialistischen“ Version - trotz verschiedener Ursachen - zu einem gemeinsamen Ergebnis führte.

Auf diese Weise war der Aufstieg der kapitalistischen Wachstumswirtschaft hauptsächlich ein Nebenprodukt der Dynamik der Marktwirtschaft, während die Herausbildung der „sozialistischen“ Version in erster Linie von der Wachstumsideologie und der - den Vorstellungen der Aufklärung folgenden - Teiliden­ti­fikation von Fortschritt und der Entwicklung der Produktivkräfte abhängig war.

In beiden Typen der Wachstumswirtschaft war das Ergebnis dasselbe: eine hohe Konzentration wirtschaftlicher Macht innerhalb der alten Ersten und Zweiten Welt (Kapitel 2) und zwischen dem Norden, aus dem die Markt- und Wachstumswirtschaft stammte und dem Süden, der eine schlechte Kopie derselben importierte (Kapitel 3).

Der erste Teil des Buches schließt mit einer Zusammenfassung der Erkenntnisse aus den ersten drei Kapiteln mit dem Versuch zu zeigen, dass die Hauptaspekte der gegenwärtigen multidimensionalen (wirtschaftlichen, ökologischen, politischen, gesellschaftlichen und ideologischen) Krise nicht nur miteinander verbunden sind, sondern dass sie in letzter Instanz der Konzentration der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Macht zugeschrieben werden dürften, die der institutionelle Rahmen der Marktwirtschaft und der liberalen „Demokratie“ anbietet. Am Ende werden die seitens der Rechten und der Linken gemachten Vorschläge zur Behebung der Krise dargestellt (Kapitel 4).

Der zweite Teil des Buches entwickelt die neue Konzeption einer umfassenden Demokratie und vergleicht sie und kontrastiert sie mit den historischen Konzepten von (klassischer, liberaler, marxistischer) Demokratie sowie mit den verschiedenen Versionen „radikaler“ Demokratie wie sie derzeit in Mode sind (Kapitel 5). Diesem folgt ein Modellentwurf einer föderalen umfassenden Demokratie im Allgemeinen und einer wirtschaftlichen Demokratie im Speziellen, der zeigt, dass ein System denkbar ist, das die Ineffizienz der Marktwirtschaft wie der Planwirtschaft überwindet und die menschlichen Bedürfnisse abdecken kann (Kapitel 6). Dieser Teil des Buches endet mit einer Diskussion transnationaler politischer und wirtschaftlicher Strategien in Richtung auf eine umfassende Demokratie (Kapitel 7).

Im letzten Teil des Buches werden die moralischen und philosophischen Grundlagen der demokratischen Gesellschaft untersucht und Versuche kritisiert, ein Befreiungsprojekt auf einer „Wissenschaft“ der Ökonomie und Gesellschaft oder auf einer „objektiven“ Ethik zu begründen. Das führt zu der Schlussfolgerung, dass das Projekt für eine umfassende Demokratie nur auf einem demokratischen Rationalismus begründet werden kann, der den „Objektivismus“ genauso überwindet wie den allgemeinen Relativismus und Irrationalismus (Kapitel 8).

 

Takis Fotopoulos

London, 1997

 

 


 

~