Umfassende Demokratie:  Die Antwort auf die Krise der Wachstums-und Marktwirtschaft


TEIL III: FÜR EINEN DEMOKRATISCHEN RATIONALISMUS


 

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KAPITEL 8 : Zur Rechtfertigung des Projekts einer umfassenden Demokratie

 

Im folgenden Kapitel werde ich die Grundlagen der „Objektivität“ in ihren positivistischen ebenso wie in ihren dialektischen Versionen untersuchen und die Frage aufwerfen, ob es praktikabel - oder überhaupt wünschenswert - ist, das Projekt einer umfassenden Demokratie in einem „objektiven“ theoretischen System zu verankern. Die Frage ist hier, ob der Versuch, das demokratische Projekt zu rechtfertigen, tatsächlich in ein echtes Dilemma führt, das uns dazu zwingt, zwischen einem modernistischen, „objektivisti­schen“ Zugang und einer postmodernen Herangehensweise zu wählen.

 

Der erstgenannte Zugang impliziert, dass wir uns gemäß der moderni­stischen Tradition auf objektive Theorien und Methoden stützen müssen, um die Notwendigkeit einer umfassenden Demokratie zu rechtfertigen, auf Pro­zeduren also, die unabhängig von unseren Erfahrungen, Wünschen, Mei­nungen und Ideen gültig sind. Ein solcher Zugang nimmt stillschweigend an, dass solche Theorien und Methoden tatsächlich „objektive Prozesse“ widerspiegeln, die in der Gesellschaft oder der natürlichen Welt am Werk sind. Wie ich jedoch in diesem Kapitel zu zeigen versuchen werde, ist eine „objektivistische“ Methode zur Rechtfertigung der Notwendigkeit einer umfassenden Demokratie nicht nur problematisch, sondern auch nicht wünschenswert. Sie ist problematisch, weil heute, nachdem im Zwan­zigsten Jahrhundert so wichtige neue Elemente wie das Prinzip der Unge­wissheit und die Chaostheorie Eingang in die Wissenschaft fanden, kaum noch jemand glaubt, dass es weiterhin möglich ist, irgendwelche „objekti­ven“ Gesetze oder „Tendenzen“ des sozialen Wandels zu postulieren. Wenn Ursache und Wirkung sogar in der exaktesten Wissenschaft über­haupt, nämlich der Physik, ungewiss sein können, und die Berufung auf notwen­dige und universale Gesetze sogar im Hinblick auf die natürliche Welt umstritten ist, ist klar, dass die Postulierung objektiver, auf die Gesellschaft anwendbarer Gesetze oder Tendenzen einfach absurd ist. Sie ist nicht wünschenswert, weil sich im Fall des sozialistischen Projekts herausgestellt hat, dass eine definitive Verbindung zwischen der „Verwissenschaftli­chung“ besagten Projekts in den Händen der Marxisten-Leninisten und der darauf folgenden Bürokratisierung der sozialistischen Politik und der totalitären Transformation der gesellschaftlichen Organisation besteht.

 

Dass der modernistische Objektivismus problematisch und nicht erstrebens­wert zu sein scheint, bedeutet aber nicht, dass der postmoderne Subjektivismus weniger problematisch ist, denn er kann leicht zu generellem Relativismus und Irrationalismus, wenn nicht gar zur vollständigen Aufgabe radikaler Po­litik führen. So bedeutet ein Akzeptieren des postmodernen „allgemeinen Konformismus“[1] letztlich ein Aufgeben jeder Idee eines Projekts der Befrei­ung, und das unter dem (erbärmlichen) Vorwand, „Polyphonie“ florieren zu lassen, und unter der (richtigen) Losung, dass „Politik, recht verstanden, ganz und gar subjektiv ist“.[2]

 

Ich werde in diesem Kapitel zu zeigen versuchen, dass es sich bei dem ge­nannten Dilemma in Wirklichkeit um ein falsches Dilemma handelt. Es ist heute möglich, ohne Rückgriff auf umstrittene objektive Gründe oder auf einen postmodernen Neokonservatismus ein Projekt der Befreiung und für eine umfassende Demo­kratie zu umreißen. Wenn wir Freiheit und das Projekt der Befreiung durch die Forderung nach sozialer und individueller Autonomie definieren,[3] wie wir es in Kapitel 5 getan haben, tun wir dies deshalb, weil wir uns in eigener Verantwortung für Autonomie und deren Aus­druck in der Demokratie entscheiden, und weil wir ganz ausdrücklich die Möglichkeit ausschließen, irgendwelche „objektiven“ Gesetze, Pro­zesse oder Tendenzen zu etablieren, die dann unvermeidlich oder „rational“ zur Verwirklichung des Projekts der Autonomie führen würden. Sobald wir uns jedoch einmal für den generellen Inhalt des Projekts der Befreiung entschie­den haben, hat dies für unser Verständnis und unsere Einschätzung der Realität einige sehr bestimmte Folgen. Mit anderen Worten: Das Projekt der Befreiung selbst bedingt die „Sichtweise“ der sozialen Realität und die Art und Weise, wie an dieser Kritik geübt wird.

Im ersten Teil dieses Kapitels wird der Objektivitätsanspruch der orthodo­xen erkenntnistheoretischen Tradition (Empirismus/Positivismus und Ratio­na­lismus), zumindest was die Interpretation der sozialen Realität angeht, in Frage gestellt. Der ausschlaggebende Einfluss von Machtbeziehungen auf die Interpretation gesellschaftlicher Phänomene spiegelt sich in der Tatsache wider, das die Gesellschaftswissenschaften durch einen viel nied­rigeren Grad an Intersubjektivität charakterisiert sind als die Naturwissen­schaften. Als nächstes nehme ich den Objektivitätsanspruch der alternativen orthodoxen Tradition, nämlich der Dialektik, unter die Lupe. Dabei befasse ich mich mit zwei wichtigen Anwendungen dieser Methode auf die Interpretation der sozialen Realität, nämlich dem dialek­tischen Materialismus und dem dialektischen Naturalismus, und komme zu dem Schluss, dass es weder praktikabel noch wünschenswert ist, auf Basis einer „objektiven“ Interpretation der sozialen oder natürlichen Geschichte eine allgemeine Theorie der sozialen „Evolution“ aufzustellen. Schließlich werde ich im letzten Abschnitt argumentieren, dass das Freiheitsprojekt einer umfassenden Demokratie sich nur auf einen demo­kratischen Rationalismus stützen kann, der sowohl „Szientismus“ und Irrationalismus als auch den generellen Relativismus transzendiert.

Der Mythos der Objektivität: die orthodoxe „Objektivität“


Die erste Frage, die sich bei jedem Versuch einer „Objektivierung“ der Interpretation der sozialen Realität stellt, bezieht sich auf die dabei verwen­dete Methodologie. Der Begriff „Methodologie“ wird hier im weiten Sinn der Philosophie der Wissenschaft verstanden - als Untersuchung der Kon­zepte, Theorien, Annahmen sowie der Kriterien zu ihrer Bewertung. Die Diskussion methodologischer Fragen hat natürlich in den Debatten zwi­schen orthodoxen Sozialwissenschaftlern und marxistischen Theoretikern eine lange Geschichte und ist in letzter Zeit explizit oder implizit in den De­batten innerhalb der Bewegung der Grünen wieder aufgetaucht. So lässt sich beispielsweise zeigen, dass wichtige Meinungsverschiedenheiten zwi­schen den verschiedenen Strömungen der grünen Bewegung auf methodo­logische Differenzen darüber zurückgehen, wie die Realität „gesehen“ wird. Solche Differenzen machen manchmal schon die bloße Kommunikation zwischen den verschiedenen grünen Strömungen extrem schwierig, wenn nicht unmöglich (wie zum Beispiel in der Debatte zwischen Sozialöko­logen und Tiefenökologen). Es ist daher entscheidend wichtig, die methodo­logischen Fragen herauszuarbeiten, die in den gegenwärtigen Debatten figurieren.

Jeder Versuch einer Objektivierung der Interpretation der sozialen Realität setzt entweder die bestehende sozialökonomische Ordnung als gegeben voraus und zielt damit implizit darauf ab, deren Reproduktion zu rechtfer­tigen (wie es die „orthodoxen“ Sozial-„Wissenschaftler“ tun), oder er negiert sie und zielt explizit auf eine drastische soziale Veränderung ab (wie es radikale Theoretiker tun). Aus Gründen, die ich weiter unten entwickeln werde, kann gezeigt werden, dass die Konzepte von Objektivität, die in den beiden Haupttraditionen der Philosophie der Wissenschaft, nämlich der empiri­stisch/positivistischen und der dialektischen Tradition entwickelt worden sind, unlösbar mit den oben genannten Zielen der sozialen Analyse verbunden sind. Die von den Empiristen/Positivisten entwickelte Konzep­tion (die orthodoxe Objektivität) passt am besten zu einer Form der „objek­tiven“ Interpretation der sozialen Realität, welche das bestehende sozial­ökonomische System als gegeben voraussetzt, und umgekehrt ist die von den dialektischen Philosophen entwickelte Konzeption von Objektivität (die dialektische „Objektivität“) am besten zur Rechtfertigung einer radikalen Umgestaltung der Gesellschaft geeignet.

 

Hier drängt sich unmittelbar die Frage auf, ob die Dialektik als eine „Methode“ angesehen werden kann. Dialektische Philosophen wie Murray Bookchin distanzieren sich vom Konzept der Dialektik als Methode, weil „die ureigenste Bedeutung von Dialektik verfälscht wird, wenn man von ihr als ‚Methode’ spricht, [denn] es handelt sich bei ihr um einen fortgesetzten Protest gegen den Mythos der ‚Methodologie’, und vor allem den Mythos, dass ‚Techniken’ des Nachdenkens über einen Prozess von diesem Prozess selber getrennt werden können“.[4]

 

Selbst wenn wir die dialektische Herangehensweise in erster Linie als eine ontologische Logik betrachten, wird damit nicht bestritten, dass sie bei der Einschätzung des Wahrheitswertes von Theorien tatsächlich eine Reihe von Konzep­ten, Kategorien und Kriterien verwendet, die sich sehr von denjenigen unterscheiden, die von den Positivisten verwendet werden, und dass sie, in diesem Sinn, auch eine Methode ist. Darüber hinaus ist die bloße Tatsache, dass auch heute noch sehr verschiedenen Traditionen (wie etwa dem Marxismus und der Sozialökologie) verhaftete Dialektiker den dialektischen Ansatz verwenden, um Licht in ein und den selben Bereich der Realität, nämlich die soziale Evolution zu bringen, und dabei auf der Ebene von Interpretation und Ethik zu sehr verschiedenen Schlussfolgerungen kom­men, ein klarer Hinweis darauf, dass die Dialektik auch als Methode verwendet wird.

Was die orthodoxe erkenntnistheoretische Tradition betrifft, sind die bei­den Hauptströmungen dieser Tradition der Rationalismus und der Empiris­mus/Po­sitivismus samt seinen späteren Versionen Falsifikationismus und „wissen­schaftliche Forschungsprogramme“. Eine kurzer Skizze dieser Strö­mungen der orthodoxen Tradition könnte nützlich für ein Verständnis der methodologischen Differenzen zwischen den verschiedenen Schulen des sozialen Denkens in ihrem Bemühen um die Interpretation der sozialen Realität sein.

Rationalismus versus Empirismus/Positivismus

 

Der Rationalismus florierte vorwiegend im kontinentalen Europa (Descar­tes, Spinoza, Leibniz, Wolff et. al.), während in Großbritannien und den USA immer der Empirismus (Bacon, Hu­me, Berkeley) und seine Nachfolger, der klassische und logische Positivismus sowie der Falsifikationismus, vorgeherrscht haben. Rationalisten wie Empiristen vereint das ge­meinsame Projekt der Suche nach der Gewissheit von Wissen und Erkenntnis, das heißt, nach Wahrheiten, die gewiss sind, weil sie notwendig sind. Gerade darum ist es in beiden Traditionen möglich, vom Beweis zu sprechen. Dennoch gab es zwischen Rationalisten und Empiristen Meinungsverschiedenheiten sowohl im Hinblick auf die Quelle der Wahrheit als auch auf die Prozedur, mittels derer das Wissen sich aus diesen Wahrheiten aufbauen kann. Die Rationalisten sehen die Quelle der Wahrheit in der „Vernunft“, während die Empiri­sten/Positivisten sie in den Sinnesdaten, das heißt, den „Fakten“ finden.

 

Diese Unterschiede spiegeln ihrerseits verschiedene Wahrheitstheorien wider. So spiegelt der Rationalismus eine Kohärenztheorie der Wahrheit wider,[5] nach der das Kriterium der Wahrheit die Kohärenz mit anderen Aussagen oder Urteilen ist, eine These, die konsistent ist mit der deduktiven Methode der Analyse. Grundlage dieses Wahrheitskriteriums ist die Über­zeugung, es sei unmöglich, eine „neutrale“ Sprache zu entwickeln, eine Sprache also, die von keinem besonderen theoretischen System und keiner besonderen Konzeption der Realität abhängig ist. Da es keine neutrale Art und Weise gibt, die Realität mit unseren Urteilen zu vergleichen, können wir nicht mehr tun, als eine Menge von Urteilen mit anderen Urteilen zu vergleichen. Mit anderen Worten, Wissen ist konzeptuell vermittelt, und Objektivität kann nur innerhalb eines bestimmten konzeptuellen Rahmens etabliert werden. Daraus ergeben sich zwei wichtige Folgerungen. Erstens, die Unvereinbarkeit rivalisierender Theorien ist ebenso wie die der aus ihnen folgenden Schlüsse den unterschiedlichen Annahmen/Axiomen ge­schuldet, die verwendet wurden. Zweitens, jede Auswahl zwischen solchen Theorien basiert letzten Endes auf nicht-wissenschaftlichen Kriterien.

 

Also gibt es, solange zwei konkurrierende Systeme innerlich konsistent und kohärent sind, keine objektive Möglichkeit, die Überlegenheit des einen theoretischen Systems (im Hinblick auf die Erklärung der Realität) über das andere zu demonstrieren. Wenn zum Beispiel sowohl von der marxistischen als auch von der neoklassischen Theorie des Wertes gezeigt werden kann, dass sie intern konsistent und kohärent sind, gibt es keine „objektive“ Möglichkeit, die Überlegenheit der einen über die andere zu zeigen. Für die Rationalisten gehören daher zum Wissen über die Welt unvermeidlich a priori Wahrheiten, Wahrheiten, bei denen es sich nicht um induktive, aus der Erfahrung gewonnene Verallgemeinerungen handelt, sondern die letzt­lich angeboren sind und daher keiner empirischen Bestätigung bedürfen. Nach Auffassung der Rationalisten können wir durch reine Überlegung zu substantiellen Erkenntnissen über das Wesen der Welt gelangen, indem wir Konzepte und Aussagen verwenden, bei denen die Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat „notwendig“ ist. Das Ideal des Rationalisten war „ein deduktives System von Wahrheiten, analog einem mathematischen System, aber gleichzeitig fähig, den Bestand unserer Tatsacheninformationen zu vergrößern ... ein System deduzierbarer Wahrheiten, [das] als die Selbst­entfaltung der Vernunft selbst angesehen werden kann“.[6]

 

In Reaktion auf das a priori und den subjektiven Charakter der Erkenntnis im Rationalismus entwickelte sich die alternative Tradition des Empirismus. Im Empirismus spiegelt sich eine völlig andere Theorie der Wahrheit, näm­lich eine Korrespondenztheorie, nach der das Kriterium der Wahrheit die Korrespondenz mit den Tatsachen ist, obwohl, wie moderne Versionen der Theorie gezeigt haben, sicherlich nicht immer jede Aussage mit einer Tat­sache korreliert werden kann.[7] Die Erfahrung wird daher zur notwendigen Basis all unseren Wissens, und da das Tatsachenwissen auf der Wahrneh­mung basiert, können wir durch apriorische Überlegungen kein Tatsachen­wissen gewinnen. Sämtliche a priori Aussagen sind analytische Aussagen (bei denen das Konzept des Prädikats im Konzept des Subjekts enthalten ist), die per definitionem wahr sind, weshalb ihre Negierung zum Wider­spruch führt. Als solche behaupten sie kein Wissen über die Welt; es handelt sich nicht um Wahrheiten über Tatsachenfragen. Auf der anderen Seite sind sämtliche synthetischen Aussagen (bei denen das Prädikat nicht im Subjekt enthalten ist) a posteriori; das heißt, die Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat ist nicht notwendig und kann es nicht sein.

 

Aber schließlich sind doch nicht alle synthetischen Aussagen a posteriori. Einige sind a priori, unabhängig von jeder Erfahrung. So sind, wie zuerst Kant betont hat, Konzepte wie Kausalität (die Wahrheit, dass jedes Ereignis eine Ur­sache hat) notwendige Wahrheiten und liefern dennoch Informationen über die Welt, die in gewissem Sinn durchaus unabhängig von der Erfahrung sind. Noch wichtiger ist die Tatsache, dass Wahrnehmung mehr als ein un­bewusster Prozess ist. Wie u.a. Kuhn[8] bemerkt, ist Wahrnehmung, ob­wohl unbewusst, durch Wesen und Ausmaß der vorherigen Erfahrung und Bil­dung konditioniert. Es existieren daher keine „rohen Fakten“: sämtliche Fakten sind theoriegeladen, und Wahrnehmung ist immer konzeptabhängig. Aber so wie alles sinnvolle Sprechen von Wissen, das auf Sinnesdaten basiert, voraussetzt, dass Sprache neutral ist, impliziert das Fehlen einer sol­chen Sprache, dass die empiristische Position unhaltbar ist, da Sinnesdaten nicht von unserem Wissen über die Welt unabhängig sind.

 

Aber trotz der Angriffe der Rationalisten, Kantianer/Neokantianer, Marxi­sten, Relativisten usw. ist der Empirismus in seinen verschiedenen Formen zur vorherrschenden Erkenntnistheorie in den orthodoxen Sozialwissenschaften geworden - ein Prozess, der durch den Erfolg der Naturwissen­schaften und den damit einhergehenden Aufstieg des Szientismus enorm gefördert worden ist. Gerade und besonders während der Entfaltung dessen, was man den „wissenschaftlich-industriellen Komplex“ nennen könnte, begann Comtes Philosophie des (klassischen) Positivismus - der nächste Schritt in der Evolution des Empirismus - die Sozialwissenschaften zu dominieren. Der Comtesche Positivismus führte die wohlbekannte Dicho­tomie zwischen Tatsache und Wert ein, eine Dichotomie, die von den orthodoxen Sozialwissenschaftlern, die versuchten, eine neutrale, „wert­freie“ Wissenschaft der Ökonomie oder der Gesellschaft insgesamt zu entwickeln, in vielen Varianten verwendet werden sollte. Aber weit davon entfernt, die Bedingungen für eine „wertfreie“ Wissenschaft von der Gesellschaft zu schaffen, trug die Einführung der Tatsache-Wert-Dichotomie nicht nur enorm zur Entstehung des Mythos der wissenschaft­lichen „Objektivität“ bei, sondern verweigerte auch, wie Murray Bookchin beobachtet, der spekulativen Philosophie das Recht, von dem, „was ist“, auf das, „was sein sollte“, zu schließen, also ihr Recht, eine gültige Dar­stellung der Realität in ihrer „Wahrheit“ zu werden.[9]

 

Die orthodoxen Sozialwissenschaftler erhielten in ihrer Bemühung, eine „Wissenschaft“ von Wirtschaft und Gesellschaft zu entwickeln, durch zwei parallele Entwicklungen enormen Auftrieb: erstens durch die wachsende Popularität des logischen Positivismus und zweitens durch wichtige Fortschritte in der Theorie der Überprüfung von Hypothesen, die in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts gemacht wurden und die Anwendung empirischer Testprozeduren auf das Studium sozialer Phäno­mene - die wesensgemäß nicht Gegenstand experimenteller Forschung sein können - ermöglichten. Tatsächlich vertrat der logische Positivismus, der etwa zur selben Zeit, als diese Entwicklungen in der Statistik stattfanden, in der orthodoxen Wissenschaftsphilosophie vorherrschend wurde, explizit die Doktrin des methodologischen Monismus, nach der sämtliche Wissenschaf­ten, also sowohl die Natur- als auch die Sozialwissenschaften, dieselbe Methode verwenden können und sollen.

Der logische Positivismus, der ursprünglich von einer Gruppe von Philosophen formuliert wurde, die später als der Wiener Kreis bekannt wurde und zu der M. Schlick, R. Carnap und andere gehörten, nahm für sich in Anspruch, eine Synthese zwischen den beiden erkenntnistheoretischen Traditionen, nämlich dem deduktiven und apriorischen Rationalismus auf der einen und dem induktiven und aposteriorischen Empirismus auf der anderen Seite zustande zu bringen. Dennoch wurzelt der logische Positivis­mus stärker in der empirischen Tradition, wie sich schon an der Tatsache zeigt, dass seine wichtigsten Thesen sich ganz im Rahmen der empiristi­schen Tradition bewegen. Das gilt besonders für die These, dass Beobach­tung oder Sinneserfahrung (ein weiteres Mal) als die wichtigste Quelle der Erkenntnis angesehen wird; die Vernunft hat als Instanz zur logischen Über­prüfung der Kohärenz zwischen Hypothesen und deren Implikationen ledig­lich eine vermittelnde Rolle zu spielen.

Obwohl der logische Positivismus durch sein Bestehen auf verifizierbaren Wahrheiten definitiv eine Verbesserung - und gleichzeitig ein Abrücken von der extremen empiristischen Position des Glaubens an bewiesene Wahrheiten - darstellte, wies er doch sehr ernste Schwächen auf. Ich möchte hier lediglich drei der gegen ihn erhobenen Kritikpunkte erwähnen. Erstens hat Karl Popper gezeigt, dass die Position Carnaps, der zufolge wissen­schaftliche Theorien, obwohl sie alle gleichermaßen unbeweisbar sind, dennoch im Verhältnis zur verfügbaren Evidenz verschiedene Grade der Wahrschein­lichkeit aufweisen, unhaltbar ist, weil von allen Theorien unabhängig von der sie stützenden Evidenz aufgrund sehr allgemeiner Bedingungen demonstriert werden kann, dass sie nicht nur gleichermaßen unbeweisbar, sondern auch gleichermaßen unwahrscheinlich sind.[10] Zwei­tens stellt sich, da es keinerlei Spezifikation dafür gibt, wie viele Tests eine Theorie bestehen muss, um als verifiziert zu gelten, die Frage, wie wir wissen können, dass die für heute etablierte Regularität auch morgen noch gültig sein wird. Und schließlich weist Katzouian darauf hin, dass die beiden wichtigsten Kriterien des logischen Positivismus (Verifizierbar­keit/Verifikation) normativ sind (da sie ihrerseits nicht verifiziert sind), und normative Aussagen sind nach den Prinzipien des logischen Positivismus schlicht Tautologien. Weit davon entfernt, eine objektive Methodologie zu liefern, wurde der logische Positivismus daher zu einer „den Fortschritt der Erkenntnis behindernden und den Interessen des Status Quo dienenden“ Ideologie.[11]

Falsifikationismus und wissenschaftliche Forschungs-programme (WFP)

Die Schwächen des logischen Positivismus führten zu einer weiteren Ver­sion des Empirismus, nämlich dem Falsifikationismus, der ein weiteres Abrücken von der ursprünglichen Position des Empirismus darstellt. Das ausschlaggebende Kriterium dessen, was als wissenschaftlich gilt, verlagert sich nun von Verifizierbarkeit und Verifikation auf Falsifizierbarkeit und Falsifikation. Es wird also explizit anerkannt, dass Theorien gleichermaßen unbeweisbar und unwahrscheinlich sind, aber sie müssen nicht unbedingt gleichermaßen widerlegbar sein: Eine finite Anzahl von Beobachtungen kann eine Theorie widerlegen, so dass empirische Gegenevidenz zum einen und einzigen Schiedsrichter für die Bewertung einer Theorie wird. Allerdings brachte nicht einmal dieses weitere Abrücken vom Empirismus eine halt­bare These hervor. Intelligente Vertreter des Falsifikationismus (wie Karl Popper in seinen späteren Schriften, Lakatos und andere) lehnten diese Form eines, wie sie ihn nannten, „dogmatischen Falsifikationismus“, ab, weil er auf fal­schen Annahmen und einem zu eng gefassten Kriterium zur Unterscheidung zwischen wissenschaftlich und nicht-wissenschaftlich beruhe.

Die erste falsche Annahme war, dass wir zwischen theoretischen und fak­tischen Aussagen unterscheiden können. Diese Annahme basiert jedoch auf dem Glauben, dass es tatsächlich Tatsachen gibt, die nicht theoretisch aufgeladen sind. Die zweite falsche Annahme besagt, dass Aussagen, die dem Kriterium, Tatsachenaussagen zu sein, genügen, wahr sind - eine Annahme, die unterstellt, dass Tatsachenaussagen experimentell bewiesen werden können. Demgegenüber hebt Lakatos hervor[12]: „Wir können Theorien nicht beweisen, und wir können sie auch nicht widerlegen; das Unterscheidungs­kriterium zwischen den weichen, unbewiesenen ‚Theorien’ und der harten, bewiesenen ‚empirischen Basis’ existiert gar nicht: Alle Aussagen der Wissenschaft sind theoretischer Art und inhärent fehlbar.“ Und letztens ist das falsifikationistische Unterscheidungskriterium so eng gefasst, dass es die angesehensten wissenschaftlichen Theorien, von denen sich leicht zeigen lässt, dass sie weder beweisbar noch widerlegbar sind, aus der Wissenschaft ausschließen würde. So würde, wie Lakatos pointiert bemerkt hat, ein Akzeptieren des falsifikationistischen Kriteriums bedeuten, dass sämtliche pro­babilistischen Theorien ebenso wie die Theorien Newtons, Maxwells und Einsteins als unwissenschaftlich abgelehnt werden müssten, da keine finite Anzahl von Beobachtungen sie je widerlegen könnte.[13]

Die nächste Entwicklung im Rahmen der empiristischen/positivistischen Tradition waren die Wissenschaftlichen Forschungsprogramme (WFP) von Lakatos. Sie waren definiert als Mengen von, erstens, den Kern des Ganzen bildenden Hypothesen oder Aussagen, die nicht Gegenstand des Falsifikationsprozesses sind, und zweitens, von weniger fundamentalen Hilfshypothesen, die einen „Schutz­gürtel“ um diesen Kern bilden und einem Prozess der Überprüfung und Erweiterung unterworfen werden sollen. Ausgehend von der Position, dass sämtliche wissenschaftliche Theorien nicht nur gleichermaßen unbeweisbar/unwahrscheinlich, sondern auch gleichermaßen unwiderlegbar sind, versuchte Lakatos, einige wissen­schaftliche Standards (und damit ein Unterscheidungskriterium) zu liefern, die sich, obwohl ebenfalls wieder auf einer Art empirischer Basis gründend, nicht durch denselben Mangel an Flexibilität auszeichnen würden wie der „dogmatische“ oder „naive“ Falsifikationismus. So veränderte er das Unter­scheidungskriterium dergestalt, dass die empirische Basis nicht länger notwendig war, um die Widerlegung einer Theorie zu verhindern, sondern nur, um ihre Ablehnung zu ermöglichen. Eine Theorie kann daher falsifiziert werden und dennoch wahr sein. Außerdem kann nun auch eine nicht-falsifizierbare Theorie von vornherein durch die Spezifizierung gewis­ser Ablehnungsregeln falsifizierbar gemacht werden. Damit könnten probabilistische Theorien wieder als wissenschaftlich gelten, vorausgesetzt, der Wissen­schaftler spezifiziert die Ablehnungsregeln, welche demonstrieren würden, dass die ermittelte statisti­sche Evidenz mit der Theorie unvereinbar ist. Und schließlich ist, während für den „naiven“ Falsifikationisten jede Theorie, die als experimentell falsifizierbar interpretiert werden kann, akzeptabel bzw. wissenschaftlich ist, für Lakatos eine Theorie (oder besser ein WFP) akzeptabel bzw. wissenschaftlich, wenn sie einen bestätigten Überschuss an empirischem Inhalt vor ihren Rivalen hat, das heißt, wenn sie zur Ent­deckung neuer Tatsachen führt.

Lakatos behauptete daher, er habe das Problem der objektiven Kriterien gelöst, das die orthodoxe Philosophie der Wissenschaft so geplagt hatte. Ein WFP, einschließlich seines nicht testbaren Kernbereichs, könnte „objektiv“, unter Verwendung normaler Testprozeduren abgelehnt werden. Aber wie Feyerabend[14] bemerkt, sind die von Lakatos offerierten Standards in Wirk­lichkeit leer, weil sie keinerlei Zeitlimit, innerhalb dessen der „überschüssige“ empirische Inhalt eines WFP verifiziert werden soll, spezifizieren und dazu auch gar nicht in der Lage sind, wenn eine Rückkehr zum naiven Fal­sifikationismus vermieden werden soll. Dies, schließt Feyerabend, scheint der Grund zu sein, weshalb Lakatos auf diesen (als dauerhaft angenommenen) Standards besteht, „einem verbalen Ornament, einer Erinnerung an glückliche Zeiten, als man es immer noch für möglich hielt, ein komplexes und oft katastrophales Geschäft wie die Wissenschaft zu betreiben, indem man ein paar einfachen und ‚rationalen’ Regeln folgt“.[15]

 

Objektivität versus Intersubjektivität

 

Es ist den orthodoxe Wissenschaftsphilosophen ganz offensichtlich nicht ge­lungen, Kriterien für „bewiesene“ Wahrheit (d.h., die Wahrheit der Ratio­nalisten und der klassischen Empiristen), für “beweisbare/verifi­zier­bare“ Wahrheit (die Wahrheit der logischen Positivisten) oder auch nur für die auf dauerhaften falsifikationistischen Standards basierende Wahrheit (die Wahr­heit nach Lakatos) zu liefern. Während also „die Anforderungen [an Objektivität] Schritt für Schritt abgeschwächt wurden, bis sie sich in Luft auflösten“,[16] brachte die „Kuhnsche Revolution“ die Machtbeziehung in die orthodoxe Erkenntnistheorie ein, indem sie die relativistische Position der „Wahrheit durch Konsens“ einnahm. Was „wissenschaftlich“ oder „objektiv wahr“ ist, wird zur Funktion des Grades an Intersubjektivität, das heißt, des Maßes an Konsens, das unter den Theoretikern einer bestimmten Disziplin erreicht wird. Objektivität setzt natürlich Intersubjektivität voraus, während dies umgekehrt nicht gilt. Intersubjektivität ist lediglich

ein gemeinsamer Rahmen vor dem Hintergrund, über den Menschen kommunizieren können, [so dass] ... das, was als Tatsache zu gelten hat, von unserer derzeitigen Weltsicht und von der konzeptuellen Struktur abhängt, die diese unsere spezifische Sicht voraussetzt.[17]

Damit kommen wir zu dem von Thomas Kuhn entwickelten Begriff des „wissenschaftlichen Paradigmas“. Das Konzept des Paradigmas ist in seiner nun dreißigjährigen Geschichte ausgiebig gebraucht und missbraucht wor­den. Zumindest ein Teil des Missbrauchs kann dem Schöpfer des Konzepts selbst angelastet werden, merkt doch z.B. Masterman[18] an, dass der Begriff in Kuhns Buch auf mindestens 22 verschiedene Arten verwendet wird! In seinem weitesten, für die Zwecke unserer Diskussion auch brauchbarsten Sinn bezieht sich Paradigma auf die „gesamte Konstellation von Überzeugungen, Werten, Techniken usw., die von den Mitgliedern einer bestimmten Gemeinschaft geteilt werden“.[19] Während Kuhn in seinen späteren Schriften[20] unter dem Druck der Anhänger Poppers, Lakatos’ und anderer im Hinblick auf die Definition des Geltungsbereichs des Begriffs den Rückzug anzutreten scheint, um sich mit einem enger gefassten Konzept zufrieden zu geben, das den Lakatosschen WFP ähnelt, bin ich der Meinung, dass der weiter gefasste Sinn auch der originellste ist. Wie Blaug[21] bemerkt, ist das jedenfalls auch die Version, die von den meisten Lesern seines Buchs als die eigentlich gültige in Erinnerung behalten wird. In diesem weiten Sinn umfasst Paradigma nicht nur eine Theorie oder Menge von Theorien, son­dern auch eine Weltsicht, eine Art und Weise, den Untersuchungsgegen­stand zu betrachten, die selbst wieder durch die generelle Weltsicht von Wissenschaftlern bedingt ist, das heißt, die Menge der von ihnen geteilten Überzeugungen über die Beziehung des Individuums zur natürli­chen Welt und zu anderen Menschen in der Gesellschaft. Darüber hinaus umfasst der Begriff eine Menge zulässiger Probleme, die gelöst werden sollen, und die Methoden legitimer Problemlösung. In diesem Sinne handelt es sich bei einem Paradigma um eine Tradition.[22] So unterscheidet sich das ökomarxi­stische Paradigma vom liberal-umweltschützerischen nicht nur deshalb, weil beide jeweils unterschiedliche Theorien zur Erklärung der ökologi­schen Probleme verwenden (und daher auch verschiedene Lösungen vor­schlagen), sondern auch, weil sie verschiedene Methoden (Konzepte, An­nahmen, Kriterien zur Bewertung von Theorien) verwenden - wobei all die­se Differenzen letztlich auf unterschiedlichen Weltsichten basieren.

Das Konzept des Paradigmas in seinem weiten Sinn umfasst also offensichtlich sehr viel mehr als die WFP von Lakatos. Dies hat sehr wich­tige Folgen für die Frage der Objektivitätskriterien. Da die Kriterien zur Bewertung der auf dem Paradigma beruhenden normalen wissenschaft­lichen Aktivität (also der Lakatossche Schutzgürtel) selbst Teil des Paradigmas sind, ist jeder „objektive“ Vergleich von Paradigmen unmöglich. Und so schreibt Kuhn denn auch:

Die Wahl zwischen konkurrierenden Paradigmen kann nicht einfach durch die für die normale Wissenschaft kennzeichnenden evaluativen Prozeduren entschieden werden, da diese zum Teil auf einem be­stimm­ten Paradigma beruhen und dieses Paradigma gerade zur Debatte steht.[23]

Das bedeutet, dass jede Unvereinbarkeit von Paradigmen aufgrund der unterschiedlichen Auflistungen zulässiger Probleme - die auf die unterschiedlichen Weltsichten zurückgehen - oder der unterschiedlichen Methoden zur Lösung dieser Probleme und der unterschiedlichen Kriterien, die bei der Auswahl dieser Methoden verwendet werden, absolut ist. Personen, die verschiedene Paradigmen anwenden, „leben in verschiedenen Welten“, sehen verschiedene Dinge oder verschiedene Beziehungen der Dinge untereinander und können nur in einem Gestalt-Wechsel von einem Paradigma zum anderen übergehen, der sie aus Anhängern der einen Art, die Dinge zu sehen, in Anhänger einer anderen solchen Sichtweise ver­wandelt. Das ist unvermeidlich, sobald wir akzeptieren, dass es keine objektiven, nicht ihrerseits paradigma-abhängigen Kriterien zur Wahl zwi­schen Paradigmen gibt. Also übernehmen Wissenschaftler (oder Theoretiker ganz generell) durch Akzeptieren eines Paradigmas letztlich ein „Gesamtpa­ket“, das aus Theorien, dazu passenden Tatsachen, einer Weltsicht und Kriterien zur Bewertung all dessen besteht. So impliziert der Begriff des Paradig­mas die Nicht-Existenz von Objektivität: Es gibt weder traditions-unab­hängige Wahrheiten (materieller Begriff von Objektivität) noch tradi­tions-unabhän­gige Arten zur Auffindung von Wahrheiten (formaler Begriff von Objektivität).[24]

Dieser paradigmatischen Sicht der Wissenschaft zufolge hängen die wissen­schaftliche „Reife“ einer Disziplin und der Umfang der von der jeweiligen wissenschaftlichen Gemeinschaft produzierten „Wahrheiten“ vom Grad der Intersubjektivität ab, der unter jenen, die diese Wissenschaft praktizieren, innerhalb eines bestimmten Zeitraums erreicht wird. Die Tatsache, dass hi­storisch gesehen zwischen Sozial- und Naturwissenschaftlern ein sehr we­sentlicher Unterschied im erreichten Grad und Typus von Intersubjekti­vität besteht, ist daher für den „Status“ ihrer jeweiligen Disziplinen von sehr gro­ßer Bedeutung. Darüber hinaus besteht ein sehr gravierender Unter­schied in Bezug auf den Erfolg, den die beiden Wissenschaftstypen historisch bei der Aufhellung ihres Untersuchungsgegenstandes - nämlich gesellschaftlicher bzw. natürlicher Phänomene - vorzuweisen hatten. Aber diese Unterschiede ergeben sich nicht aus „exogenen“ Faktoren; sie ergeben sich aus dem Forschungsgegenstand selbst - eine Tatsache, die bedeutende Folgen für die Frage hat, ob das Projekt der Befreiung objektiviert werden kann.

 

Nehmen wir zur Illustration dieser Unterschiede das Beispiel der Wirt­schaftswissenschaft, die, vor allem wegen ihrer größeren Fähigkeit, die von ihr untersuchten Beziehungen zu quantifizieren, als die härteste „Wissen­schaft“[25] unter den Sozialwissenschaften gilt. In den über hundert Jahren seit der Veröffentlichung von Das Kapital spalteten zwei auf radikal ver­schiedenen Weltsichten und Traditionen beruhende wirtschaftswissen­schaftliche Paradigmen, nämlich das marxistische und das „orthodoxe“, das Forschungsgebiet. Bei dieser Unterscheidung gehe ich davon aus, dass jede der beiden Gruppen von Theorien ungeachtet der bedeu­ten­den Unterschiede zwischen ihren jeweiligen verschie­denen Schulen (be­son­ders im orthodoxen Lager, wo wir Neoklassi­kern, Ricardianer, Key­nesianer, Monetaristen usw. finden) immer noch je ein fundamentales, schulenüber­greifendes Merkmal aufweist: Alle orthodoxen Theorien set­zen das System der Marktwirtschaft als gegeben voraus, während alle mar­xistischen Theoretiker den Kapitalismus lediglich als eine historische Phase in der Evolution der Gesellschaft ansehen. Aus diesem fundamentalen Unterschied ergeben sich alle übrigen Unterschiede zwi­schen orthodoxen und marxistischen Theorien im Hinblick auf die bei der Analyse wirt­schaft­licher Phänomene zu verwendenden Konzepte und Methoden.

Man könnte vielleicht argumentieren, dass die von den Wirtschaftstheoreti­kern bei der Wahl zwischen den beiden Paradigmen verwendeten Kriterien nicht in erster Linie wissenschaftlicher Art waren. Tatsächlich waren es so­ziale Faktoren, das heißt, Faktoren, die in direktem Bezug zu ihrem eigenen Untersu­chungsgegenstand (Wirtschaft/Gesellschaft) standen, die eine entscheidende Rolle bei dieser Wahl spielten. So bedingten der insti­tutionelle Rahmen, der die gesellschaftliche Position und die möglichen Karriereambitionen der Wirtschaftswissenschaftler absteckte, und die Art und Weise, wie sie sich selbst wahrnahmen, ihre sozialen, politischen und moralischen Wahrnehmungen. Mit anderen Worten, soziale Faktoren wie die gerade erwähnten konditionierten ihre Weltsicht, auf deren Basis sie wiederum ihre Paradigmenwahl trafen. Was den institutionellen Rahmen betrifft, ist es kein Zufall, dass vor dem Zusammenbruch des „realexistie­renden Sozialismus“ in den wissenschaftlichen Gemeinden in West und Ost das orthodoxe bzw. das marxistische die vorherrschenden (am weitesten verbreiteten) Paradigmen waren. Auf den Zusammenbruch dieser Regimes folgte weltweit eine massive Konversion von Wirtschaftswissenschaftlern zum orthodoxen Paradigma. Da dieser Zusammenbruch selbst jedoch nichts mit der Analyse der Marktwirtschaft durch das marxistische Paradigma zu tun hat, ist klar, dass die heutige weltweite Dominanz des orthodoxen Paradigmas nichts mit irgendwelchen wissenschaftlichen Kriterien zu tun hat, die seine Überlegenheit über das konkurrierende marxistische Paradig­ma demonstrieren würden, sondern schlicht die Unvereinbarkeit beider Pa­radigmen und das Fehlen jeglicher wissenschaftlicher Kriterien für eine ob­jektive Wahl zwischen ihnen widerspiegelt.

Offensichtlich spielt also der Untersuchungsgegenstand in den Sozial­wis­senschaften bei der Bestimmung des Paradigmas eine weitaus wichtigere Rolle als in den Naturwissenschaften. Das liegt daran, dass die Weltsicht des Gesellschaftstheoretikers unmöglich von seinem Forschungsgegenstand - eben der Gesellschaft - getrennt werden kann. Darüber hinaus besteht aufgrund der für eine hierarchische (oder heteronome) Gesellschaft charak­teristischen Spaltungen unvermeidlich eine Spaltung unter den Gesellschafts­theoretikern, besonders im Hinblick auf die fundamentale Frage, ob sie das bestehende Gesellschaftssystem in ihrer theoretischen Arbeit als gegeben voraussetzen sollten. Die Tatsache, dass unter den Naturwissen­schaftlern kei­ne ähnlich unvermeidliche Spaltung entstehen konnte, könnte zusammen mit der den Naturwissenschaftlern zur Verfügung stehenden Möglichkeit des Experiments weitgehend den höheren Grad an Intersubjektivität erklä­ren, den die Naturwissenschaften im Vergleich zu den Sozialwissenschaften bei der Interpretation ihres Forschungsgegenstands erreichen konnten. Und schließlich könnten die oben genannten Tatsachen bequem erklären, weshalb die Naturwissenschaften als reifer als die Sozialwissenschaften charakterisiert werden. Das ist offensichtlich auf den Grad an Intersubjektivität zurückzuführen, den die Naturwissenschaftler zu gegebener Zeit und zu gegebenem Ort tatsächlich erreichen können, ein Grad an Intersubjektivität, der relativ gesehen höher ist als der, den die Sozialwissenschaftler potentiell erreichen können.

 

Der Mythos der Objektivität: die dialektische „Objektivität“


 

Wie aus der obigen Diskussion hervorgeht, ist die orthodoxe Philosophie der Wissenschaft nicht imstande gewesen, das sogenannte „Methodenproblem“ zu lösen, das heißt, das Problem der Etablierung objektiver Kriterien für die Bewertung von Theorien. Für Philosophen, die sich die dialektische Methode der Analyse zu eigen machen, existiert dieses Problem jedoch nicht, weil für sie „Techniken“ zur geistigen Durchdringung eines Prozesses nicht von diesem Prozess selbst getrennt werden können. Zur Einführung der dialektischen Herangehensweise ist es vielleicht nützlich, mit dem Beitrag Kants zu beginnen, der einen bedeutenden Einfluss auf sie gehabt hat.

Das System Kants verfolgte die Absicht einer Ersetzung sowohl des konventionellen Rationalismus als auch des britischen Empirismus, aber die Geschichte hat diesen Anspruch nicht bestätigt. Dennoch kann der Kantianismus als Synthese (im Hegelschen Sinn) zweier anderer Traditionen angesehen werden, das heißt, als ein originelles System, das beide subsumiert. Das Kantsche System geht davon aus, dass Wissen nicht einfach auf der reinen Vernunft, nicht einfach auf Sinnesdaten, sondern auf allen beiden basiert. So kann die Wahrheit von Aussagen nur unter Berücksichtigung der von uns verwendeten Kategorien bewertet werden, welche wiederum methodologische Regeln gänzlich apriorischer Natur und damit unabhängig von Erfahrung sind. Die Kategorien sind daher die Voraussetzungen des Wissens. Obwohl sie aus sich selbst heraus kein Wissen über Gegenstände liefern, dienen sie dazu, empirisches Wissen überhaupt zu ermöglichen. Die Dinge können nicht erkannt werden, außer durch das Medium der Kategorien, die vom Geist geschaffen sind und die Funktion der Synthetisierung der Sinnesdaten übernehmen.

Die Bedeutung Kants in der alternativen Philosophie der Wissenschaft besteht jedoch darin, dass hier zum ersten Mal ein Philosoph eine der wichtigsten dialektischen Gegenüberstellungen in sein System des Wissens aufnimmt: die zwischen Empirismus und Totalität, zwischen Form und Inhalt, ein Thema, das später von Hegel und Marx weiter ausgeführt wurde. Folgt man Goldmann,[26] so gelingt dies durch die Entwicklung der Idee der Totalität. So können wir in ihrer Weltsicht im Hinblick auf die fundamentale Kategorie der menschlichen Existenz drei philosophische Traditionen unterscheiden:

  • Erstens, die individualistische/atomistische Tradition (Descartes, Leibniz, Locke, Hume, Wiener Kreis et al.), deren Weltsicht das Individuum als die wichtigste Kategorie der menschlichen Existenz betrachtet. Nach dieser Auffassung stellt die Gesellschaft eine Menge von Interaktionen unter autonomen Individuen dar.

  • Zweitens, die holistische Tradition (Schelling, Bergson, Heidegger et al.), deren Weltsicht das Ganze als die fundamentale Kategorie der menschlichen Existenz betrachtet. Der Teil existiert hier nur als für die Existenz des Ganzen notwendiges Mittel, und das autonome Individuum wird zur Ausnahme innerhalb des Systems (der Führer, der Held usw.)

  • Schließlich die Tradition, die als wichtigste Kategorie das Konzept der Totalität in ihren beiden Hauptformen, des Universums und der menschlichen Gemeinschaft, verwendet. Die Totalität unterscheidet sich vom Ganzen der holistischen Weltsicht, weil erstere ein widersprüchliches Ganzes ist. Dementsprechend schreibt Goldmann:

Die Teile [der Totalität] werden erst durch ihre Vereinigung im Ganzen möglich; die Autonomie der Teile und die Realität des Ganzen harmonieren nicht nur miteinander, sondern bedingen sich wechselseitig; anstelle der partiellen und einseitigen Lösungen des Individuums oder des Kollektivs erscheint daher die einzige totale Lösung, nämlich die der Person und der menschlichen Gemeinschaft.[27]

Das Konzept der Totalität ist eine fundamentale Kategorie der dialektischen Methode, weil sie uns, den dialektischen Philosophen zufolge, nicht nur erlaubt, eine Reihe wichtiger Widersprüche im Wissen und in der sozialen Realität zu sehen, sondern auch eingesetzt werden könnte, um die Widersprüche zwischen Theorie und Praxis, dem Individuum und der Gemeinschaft zu lösen. Wenn wir das Konzept der Totalität in seinen beiden Hauptformen verwenden, können wir demnach folgende dialektische Widersprüche sehen:

  • Den Widerspruch zwischen den Teilen und dem Ganzen im Wissen: Die Teile können nur durch das Ganze gesehen werden, das sie in sich enthält, während das Ganze nur durch die tatsächliche Kenntnis der Teile gesehen werden kann.

  • Den Widerspruch zwischen Individuen und Gesellschaft: Individuen können nur durch die Gesellschaft gesehen werden, während die Gesellschaft nur durch die Kenntnis der Individuen gesehen werden kann. Der Motor der Veränderung ist der Widerspruch zwischen Teilen, deren Spannung die Totalität selbst verändert. Die Gesellschaft kann daher nicht als eine Menge von Interaktionen unter autonomen Individuen betrachtet werden. Tatsächlich bringen die Empiristen/Positivisten gerade deshalb keine Einheit von Ganzem und Individuum zustande, weil sie die Existenz jeder (praktischen oder theoretischen) Totalität leugnen und sich statt dessen auf atomare Aussagen konzentrieren. So schließen sie durch ihre Annahme, Wissen werde durch faktische Beziehungen konstruiert, eine theoretische Totalität aus. Indem sie von der Dichotomie von Tatsache und Wert ausgehen, aus der folgt, dass das, „was ist“ - das positive Element - immer von dem unterschieden werden muss, „was sein sollte“, schließen sie darüber hinaus auch eine praktische Totalität aus.

  • Den dialektischen Widerspruch zwischen dem tatsächlich Gegebenen und dem Möglichen: ein Widerspruch, der aus der Konzeption der Realität als Ziel, als etwas, das durch Handeln erreicht werden muss, entsteht. Dergestalt vereint die Totalität Theorie und Praxis, Individuum und Gemeinschaft. Das steht in Gegensatz nicht nur zum Empirismus/Positivismus, sondern auch zum Rationalismus, der ebenfalls dualistisch ist und eine künstliche Spaltung zwischen Subjekt und Objekt, Theorie und Praxis schafft.

 

Die dialektische Konzeption von Objektivität

 

Der Widerspruch zwischen real Gegebenem und Möglichem besteht jedoch nicht nur in der Konzeption der Realität als Ziel. Wenn wir von einem weiter gefassten Verständnis dieses speziellen Widerspruchs ausgehen, können wir nämlich klar die grundlegenden Unterschiede zwischen der orthodoxen und der dialektischen Konzeption von „Objektivität“ sehen. Nach Auffassung dialektischer Philosophen fügt der Widerspruch zwischen real Gegebenem und Möglichem der Weise, wie wir die Realität sehen, zwei wichtige Dimensionen hinzu: nämlich die historische und die ethische Dimension.

 

Im Unterschied zum Positivismus, der sich in Ermangelung jeder historischen Dimension auf Erscheinungen konzentriert, kann die dialektische Herangehensweise demzufolge aufgrund ihrer Fähigkeit, die Potentialität als historische Möglichkeit zu sehen, die verborgenen Ursachen für empirische Phänomene, das Wesen hinter den Erscheinungen untersuchen. Darüber hinaus kann der dialektische Zugang zur Ableitung einer „objektiven“ Ethik eingesetzt werden. Während die Realität also für die Empiristen das ist, „was ist“, ist sie für Dialektiker das was angesichts der in der Entwicklung latent vorhandenen Potentiale „sein sollte“. „Was ist“ sollte demnach immer von dem her bewertet werden, was es potentiell werden könnte. Während die Realität für die Empiristen faktischer und struktureller Natur ist, ist sie also für dialektische Philosophen prozessual. Im Rahmen der dialektischen Methode ist daher schon die Bedeutung von „Tatsache“ ganz anders zu verstehen, da letztere nicht einfach aus einer Menge unverrückbarer Grenzen besteht, sondern statt dessen aus einer Menge im Fluss befindlicher Grenzen und der Art und Weise ihres Werdens; mit anderen Worten, sie schließt die Vergangenheit, die Gegenwart und ihre Zukunft ein.

 

Daher nimmt das Objektivitätskonzept in der Dialektik eine Bedeutung an, die sich sehr vom traditionellen Verständnis von Objektivität im Empirismus/Positivismus unterscheidet. Was „objektiv wahr“ ist, ist nicht das, was Tatsachen oder dem, was verifiziert werden kann, korrespondiert, und auch nicht das, was unter Berufung auf Sinnesdaten - die ohnehin nur Informationen über das, „was ist“, liefern können - falsifiziert/abgelehnt werden kann. Wie Bookchin formuliert, ist das, was in der Dialektik „objektiv wahr“ ist, statt dessen „der Prozess des Werdens selbst - einschließlich dessen, was eine Erscheinung gewesen ist, was sie ist und was sie entsprechend der Logik ihrer potentiellen Möglichkeiten werden wird, wenn diese Möglichkeiten sich verwirklichen“.[28] In diesem Sinn ist das dialektische „Reale“ sogar noch „realer“ als das empiristische; es bringt die logischen Implikationen des Potentials zum Ausdruck - es ist die Realisierung des Potentiellen, des Rationalen. Aufgrund der fundamentalen Unterschiede zwischen der orthodoxen und der dialektischen Konzeption von Objektivität sind die Kriterien zur Bewertung des Wahrheitswertes der aus der Anwendung der jeweiligen Methoden hervorgegangenen Theorien ebenfalls sehr verschieden. So unterstreicht Bookchin: „Die Verifikation, welche die Gültigkeit dialektischer Überlegungen bestätigt oder widerlegt, muss sich auf in Entwicklung befindliche, nicht relativ statische oder etwa ‘fluktuierende’ Phänomene stützen.“[29]

Die historischen und ethischen Dimensionen der dialektischen Methode führen dazu, dass sie in hohem Maß mit radikalen Analysen, die eine alternative Form der gesellschaftlichen Organisation vorschlagen, vereinbar ist. Aufgrund der von ihr getroffenen Unterscheidung zwischen real „Gegebenen“ und dem, „was sein sollte“, bietet sich die dialektische Herangehensweise sowohl vom historischen als auch vom ethischen Gesichtspunkt her als „objektive“ Rechtfertigung eines Projekts der Befreiung an. Von daher überrascht es nicht, dass der dialektische Zugang von radikalen Philosophen von Marx bis Bookchin verwendet worden ist, um die Notwendigkeit einer alternativen Gesellschaft - nämlich einer sozialistischen bzw. einer ökologischen Gesellschaft - „objektiv“ zu rechtfertigen. Ganz analog dazu liefert die orthodoxe Philosophie der Wissenschaft ein Konzept von Objektivität, das verwendet werden kann, um den Status Quo „objektiv“ zu rechtfertigen. So kann der Empirismus/Positivismus, besonders, wenn er zur Analyse gesellschaftlicher Phänomene eingesetzt wird, eine „objektive“ Rechtfertigung dessen liefern, „was ist“, indem er schlicht und einfach die soziale Entwicklung ihres historischen und moralischen Gehalts entleert.

Selbstverständlich folgt aus der Unvereinbarkeit zwischen der orthodoxen und der dialektischen Konzeption von Objektivität eine entsprechende Unvereinbarkeit swischen den orthodoxen sozialwissenschaftlichen Paradigmen und jenen Paradigmen in diesem Bereich, die sich der dialektischen Methode bedienen. Oder wie Murray Bookchin es ausdrückt: „Für die analytische Logik sind die Prämissen der dialektischen Logik Unsinn; für die dialektische Logik dienen die Prämissen der analytischen Logik nur dazu, Faktizität zu verhärteten, unverrückbaren logischen ‚Atomen’ zu versteinern.“[30]

 

Wie die folgende Diskussion zu zeigen versucht, ist die dialektische Herangehensweise aber ebenfalls unfähig zu einer Lösung des Problems der „Objektivität“. Das ist vor allem deshalb der Fall, weil die Realität, um durch das dialektische Denken assimiliert werden zu können, in ihrer Form und Entwicklung dialektisch und damit rational sein müsste. Das heißt, dass eine Dialektik genau zu dem Zeitpunkt die Rationalität von Welt und Geschichte postulieren muss, wo diese Rationalität sowohl theoretisch als auch praktisch ein Problem ist.[31] Castoriadis schreibt dazu

Das operative Postulat, nach dem eine totale und „rationale“ (und daher „sinnvolle“) Ordnung in der Welt besteht, mit seiner notwendigen Folgerung, dass eine mit der Ordnung der Welt verknüpfte Ordnung im Bereich des menschlichen Lebens besteht - eine Herangehensweise, die man als einheitliche Ontologie bezeichnen könnte - hat die politische Philosophie seit Plato über den Liberalismus bis hin zum Marxismus verfolgt. Das Postulat verdeckt die grundlegende Tatsache, dass die menschliche Geschichte Schöpfung ist - ohne die es keine echte Frage des Urteilens und der Wahl gäbe, weder „objektiv“ noch „subjektiv“.[32]

Tatsächlich leidet die dialektische nicht weniger als die orthodoxe Herangehensweise unter dem, was Hindess und Hirst[33] den „erkenntnistheoretischen Trugschluss“ nennen, nämlich der Konstruktion eines apriorischen Kerns von Konzepten, welche die Bedingungen ihrer eigenen Gültigkeit voraussetzen. Diese Position lässt natürlich sogleich an die Kuhns denken, nach der ein Paradigma seine eigenen Gültigkeitskriterien enthält. Untersuchen wir aber zunächst die marxistische Version dialektischer Objektivität, die den problematischen Charakter der dialektischen „Objektivität“ klar zu Tage treten lässt.

 

Marxistische „Objektivität“ und Dialektik

Die marxistische Konzeption von Objektivität unterscheidet sich natürlich von jener der orthodoxen Wissenschaftsphilosophen, da ihr ein „soziales“ Element hinzugefügt ist, und zwar in Gestalt der These, dass Konzepte und Theorien durch gesellschaftliche (Klassen-)Interessen konditioniert sind. Ferner enthält sie ein „historisches“ Element, dem zu Folge Konzepte und Theorien außerdem auch noch durch die Zeit konditioniert sind. Diese Vorbehalte zielen jedoch nicht darauf ab, den angeblich „objektiven“ und wissenschaftlichen Charakter der marxistischen Analyse in Abrede zu stellen.

So versuchte Marx auf der Basis von Veränderungen in der „ökonomischen Sphäre“ (der Sphäre, die zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort - in Europa zur Zeit des Übergangs zum Kapitalismus - hauptsächlich für die Veränderung der Gesellschaft verantwortlich war), eine universal gültige Interpretation der gesamten menschlichen Geschichte zu liefern und die historische Notwendigkeit der sozialistischen Umwandlung der Gesellschaft zu beweisen. Marx zweifelte weder am „wissenschaftlichen“ Charakter seiner ökonomischen Gesetze, die er als „eherne“ Gesetze betrachtete, die unvermeidlich bestimmte Resultate zeitigen mussten, noch am „objektiven“ Charakter seiner Konzeption, die er mit einem naturgeschichtlichen Prozess verglich:

 

Es handelt sich um diese Gesetze selbst, um diese mit eherner Notwendigkeit wirkenden und sich durchsetzenden Tendenzen. ... Mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozess auffasst...[34]

Lenin drückte sich sogar noch deutlicher aus:

Der Materialismus gab ein völlig objektives Kriterium an die Hand [Hervorhebung T.F.], indem er die „Produktionsverhältnisse“ als die Struktur der Gesellschaft heraushob ... zum erstenmal eine streng wissenschaftliche Stellungnahme zu den geschichtlichen und sozialen Fragen ermöglichte.[35]

Der marxistische Anspruch auf „Objektivität“ führte unvermeidlich zu methodologischen Debatten unter den Marxisten, die sehr denen ähnelten, die im orthodoxen Lager unter den Positivisten und Rationalisten/Neokantia­nern stattfanden. Die Debatten betrafen das, was oft als „das Problem des Wissens“ bezeichnet worden ist, nämlich das Problem der Kriterien, anhand derer ein Korpus an Wissen bewertet werden kann, und insbesondere, ob und wie die Entsprechung einer Theorie zur Realität beurteilt und demonstriert werden kann.

 

Ich würde die verschiedenen marxistischen Tendenzen im Hinblick auf das Problem des Wissens folgendermaßen charakterisieren:

 

Erstens besteht eine Tendenz, die ich die „philosophische Tendenz“ nennen würde, eine Tendenz, in der der Praxis Vorrang vor der Theorie eingeräumt wird. Sie ist von dem inspiriert ist, was Castoriadis[36] als das revolutionäre Element bei Marx ausmacht, dem Element, welches das Ende der Philosophie als geschlossenes System proklamiert, wie es in der berühmten Elften These Marxens über Feuerbach getan wird: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“[37] Im Kontext dieser Tendenz stellt sich das Problem des Wissens gar nicht. Aber wie wir gleich sehen werden, wird damit aufgrund des für diese Tendenz charakteristischen impliziten oder expliziten Relativismus der Glaube an eine auf objektiven Wahrheiten basierende marxistische Wissenschaft ebenfalls unhaltbar.

 

Zweitens haben wir das, was ich die „szientistische“ Tendenz nennen möchte, bei der die Vorzeichen umgekehrt sind, insofern hier dem theoretischen oder wissenschaftlichen Element der Vorrang eingeräumt wird. Dieses Element hat schließlich das Marxsche Werk und danach den Marxismus dominiert, und es ist das, was Castoriadis das traditionelle Element im Marxismus genannt hat. Tatsächlich sollte Marxens Umschwenken von seinen frühen philosophischen/humanistischen Schriften zu seinen späteren Werken nach 1845 nach Auffassung einer wichtigen Schule des modernen Marxismus - des strukturalistischem Marxismus Althussers - als erkenntnistheoretischer Bruch (als Sprung aus der vorwissenschaftlichen in die wissenschaftliche Welt) beschrieben werden.[38] Es geht auf dieses „wissenschaftliche“ Element zurück, dass der Marxismus am Ende nur eine weitere Theorie ist, ein weiteres geschlossenes System zur Erklärung des Wesens der Gesellschaft, und dass er von daher genau wie alle anderen wissenschaftlichen Theorien dem Problem der Garantie der Wahrheit gegenübersteht. Das gemeinsame Kennzeichen aller Strömungen dieser Tendenz ist, dass sie ausdrücklich davon ausgehen, dass eine neutrale „wissenschaftliche“ Erklärung der äußeren (sozialen) Realität sowohl praktikabel als auch wünschenswert ist.

 

Wenn ich mich nun mit der philosophischen Tendenz befasse, muss ich zunächst einmal klarstellen, dass das, was ich hier als die „philosophische Tendenz“ bezeichne, nicht viel mit dem dialektischen Materialismus, der Sicht des Marxismus-als-Philosophie zu tun hat. Im Rahmen des dialektischen Materialismus ist Philosophie in Wirklichkeit eine Wissenschaft, oder besser gesagt, die Wissenschaft von Geschichte und Gesellschaft, und gehört von daher zu der szientistischen Tendenz, die wir uns als nächstes ansehen werden. McLennan etwa bezieht hierzu ganz klar Stellung: „Die Rolle der Philosophie, nicht als Metaphysik, sondern in Form von auf der Wissenschaft und ihren Konzepten basierenden Verallgemeinerungen, nimmt einen ‚wissenschaftlichen’ Aspekt an, der positiv wie negativ nicht von Ideologie, sondern von der Wissenschaft selbst abhängig ist.“[39] Eine solche Auffassung vom Marxismus-als-Philosophie macht sich jedoch (aus den oben angesprochenen Gründen) ebenfalls des „erkenntnistheoretisches Trugschlusses“ schuldig, auf den Hindess und Hirst hingewiesen haben.

 

Eine Alternative zu der Auffassung vom Marxismus-als-Philosophie, die für die philosophische Tendenz relevanter ist, ist die Auffassung vom Marxismus-als-Methode. So argumentiert zum Beispiel Lukacs, dass selbst eine Widerlegung sämtlicher marxistischer Thesen in toto durch die Forschung orthodoxe Marxisten nicht weiter beunruhigen müsste, weil „die Orthodoxie sich ausschließlich auf die Methode bezieht“.[40] Diese Sicht kann jedoch unter mehreren Aspekten kritisiert werden. Erstens ist, wie McLennan anmerkt,[41] der Gedanke, nach dem der Marxismus nichts weiter als ein methodologisches Werkzeug ist, nicht nur seltsam, sondern genauso philosophischer Art wie die Auffassung vom Marxismus-als-Philosophie. Zweitens können, wie Castoriadis hervorhebt,[42] Methode und Inhalt nicht voneinander getrennt werden und bringen einander gegenseitig hervor, während die marxistischen Kategorien selbst historisch sind. Eine ähnliche Position vertrat auch Karl Korsch, dem zufolge der Marxismus, wie alle Theorien, historischen Existenzbedingungen unterliegt, für die allein er relevant ist.[43]

 

Nach der von den Autoren der philosophischen Tendenz - Karl Korsch, George Lukacs (mit gewissen Vorbehalten), Peter Binns, Derek Sayer, Phillip Corridan und anderen - gewöhnlich vertretenen Auffassung ist der Ausgangspunkt des Wissens weder wie im Rationalismus in reiner Selbstwahrnehmung noch wie im Empirismus in den Sinnesdaten zu suchen. Der Rationalismus schafft eine künstliche Dualität zwischen Subjekt und Objekt, Theorie und Realität, während der Empirismus nicht nur dualistisch ist, sondern auch die Erscheinung mit dem Wesen in eins setzt. Als Ausgangspunkt des Wissens wird statt dessen der aktive Kontakt der Menschen mit der Gesellschaft und der natürlichen Welt gesehen. Wissenschaft ist daher die Einheit von Theorie und Praxis, die nicht nur die Realität interpretiert, sondern auch zum Bestandteil der Kräfte zu ihrer Veränderung wird, Teil der Praxis, das heißt, der bewussten, willentlichen Gestaltung der Geschichte. Also sind, wie Lukacs bemerkt,[44] wissenschaftliche Gesetze nicht einmal in einem probabilistischen Sinn prognostisch, sondern bilden nur einen Rahmen, der eine theoretisch informierte und daher effektive soziale Praxis ermöglicht.

 

Dass die gesellschaftliche Praxis die Quelle, der Prüfstein und das Ziel des Wissens ist, ist natürlich unter Marxisten ein Gemeinplatz. Die wirkliche Frage ist daher, ob die Praxis als der Schöpfer der Wahrheit und des Wissens betrachtet werden sollte oder als Kriterium der Verifizierbarkeit von Wissen. Für die philosophische Tendenz schafft Praxis Wissen im Kontext eines in empirischer Hinsicht offenen Systems. Peter Binns drückt das so aus: „Objektive Wahrheiten werden weniger entdeckt als geschaffen; sie enthüllen sich nur im Akt ihrer Schöpfung.“[45] Daher ist hier das einzig gültige Kriterium Leben, Aktion und Kampf.[46] Für die szientistische Tendenz bildet Wissen dagegen letztlich ein geschlossenes theoretisches System, und die Praxis fungiert als Kriterium seiner Verifizierbarkeit. Daher ist offensichtlich, dass innerhalb der philosophischen Tendenz kein Problem der Kriterien und der Wissenschaftlichkeit entstehen konnte, da dies eine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Theorie und Realität voraussetzen würde, eine Unterscheidung also, die von dieser Tendenz explizit negiert wird. Von diesem Gesichtspunkt her lässt sich auch erklären, worin das Problem des Wissens letztlich wurzelt. Das Problem entsteht, weil das Gültigkeitskriterium in der orthodoxen Wissenschaftsphilosophie externer Art und außerhalb der gesellschaftlichen Existenz der Menschen angesiedelt ist, die Träger der Ideen sind: Es ist entweder (so der Rationalismus) irgendwo in einem autonomen und a-sozialen Bereich der Vernunft oder (nach Auffassung des Positivismus) in der Erfahrung zu suchen.

 

Der Preis für die Überwindung des Problems des Wissens auf diese Art ist jedoch hoch: Wie marxistische Kritiker der eben skizzierten These bald moniert haben, kann der Marxismus so keinen Anspruch auf einen wissenschaftlichen, auf objektiven Wahrheiten basierenden Status erheben. Wenn wir akzeptieren, dass die Theorie auf der Praxis, soll heißen der Klassenpraxis des Proletariats, basiert, wird am Ende ganz offensichtlich keine auf objektiven Wahrheiten basierende Wissenschaft herauskommen, sondern eine Klassenwissenschaft. Das marxistische Argument, dem zu Folge das Proletariat das gesamtgesellschaftliche Interesse an der Abschaffung der Klassengesellschaft zum Ausdruck bringt, macht den wissenschaftlichen Anspruch des Marxismus durchaus nicht stichhaltiger, weil die Überlegenheit der marxistischen Theorie immer noch auf ihrer einzigartigen Fähigkeit beruht, als potentielles Bewusstsein der Arbeiterklasse das Klassensystem abzuschaffen. Aus diesem Grund argumentieren marxistische Kritiker der szientistischen Tendenz wie Collier,[47] die eben skizzierte Sicht des Marxismus verwandle diesen in eine Theologie, und die Praxis solle nicht als Schöpferin der Wahrheit angesehen werden, sondern lediglich als Mechanismus, der ihr Erscheinen sicherstellt, einer Position, die Kolakowski[48] zurecht als „Marxismus positivistischer Orientierung“ charakterisiert. Von daher kann man sagen, dass es kein Zufall war, dass Marx selbst (wie Castoriadis gezeigt hat[49]) bei der Ableitung seiner Bewegungs-„Gesetze“ vom Klassenkampf abstrahieren musste, weil er nur so eine wissenschaftliche Theorie des Kapitalismus entwickeln konnte. Der Klassenkampf ist bei der Ableitung seiner wissenschaftlichen Gesetze abwesend und erscheint nur auf einer anderen Ebene der Analyse wieder, nämlich beim Umsturz eines Systems, dessen essenzielle Natur demonstriert worden ist, indem von eben diesem Klassenkampf abstrahiert wurde.

 

Daher bringt die von der philosophischen Tendenz vorgeschlagene „Lösung“ des Problems des Wissens nicht weiter. Da man die orthodoxe Sozialwissenschaft, wie wir gesehen haben, ebenfalls als Klassenwissenschaft im Dienste der Interessen der herrschenden Klasse ansehen könnte, haben wir schließlich zwei Klassenwissenschaften, mit anderen Worten, zwei miteinander unvereinbare Paradigmen, und keine Möglichkeit, eine objektive Wissenschaft der Gesellschaft zu entwickeln. Darüber hinaus umschifft die gelegentlich von marxistischen Autoren[50] vertretene Ansicht, der Klassencharakter der marxistischen Ökonomie stelle ihre wissenschaftliche Gültigkeit nicht in Frage, da besagte Gültigkeit ausschließlich auf ihrer Fähigkeit zur Erklärung der Realität basiere, das Problem ganz offensichtlich nur, da es keinen „objektiven“ Weg gibt, auf dem man entscheiden könnte, welches Paradigma die Realität besser erklärt.

 

Die grundlegende These der philosophischen Tendenz, nach der der dialektische Materialismus von der orthodoxen Erkenntnistheorie nicht nur verschieden ist, sondern auch eine Sicherung gegen sie darstellt, und nach der außerdem die Methode vom Inhalt getrennt werden kann, wird jedoch von vielen Marxisten abgelehnt,[51] besonders von denen, die die wissenschaftliche Natur des Marxismus unterstreichen (der szientistischen Tendenz). Den Marxisten dieser Tendenz sind drei elementare Anschauungen gemeinsam, nämlich erstens, dass die Realität unabhängig von der Theorie ist (während der Umkehrschluss nicht gilt), und zweitens, dass die Theorie von ihrem Gegenstand unabhängig ist, und schließlich, dass die Wahrheit einer Theorie auf ihrer Fähigkeit zur gedanklichen „Aneignung“ oder Reproduktion der Realität basiert. Aber da es mehrere Arten gibt, zu zeigen, dass eine Theorie der Realität entspricht oder sie adäquat widerspiegelt, reproduziert sich die große Spaltung unter den orthodoxen Wissenschaftsphilosophen (Rationalisten versus Empiristen/Positivisten) unvermeidlich auch in der marxistischen szientistischen Tendenz reproduziert.

 

Was nun erstens die empiristische Tendenz im Marxismus betrifft, so finden wir sie zuerst in den späten Schriften von Engels,[52] wonach sie von Bucharin, Plechanow und Lenin[53] weiter entwickelt wurde. In letzter Zeit hat diese Tendenz den angelsächsischen Marxismus dominiert, was, wie man vermuten könnte, auf die traditionelle Vorherrschaft von Empirismus und Positivismus in diesem Teil der Welt zurückgeht. Das Problem des Wissens besteht in dieser Tendenz sehr wohl, und seine Lösung gründet sich auf empiristische Kriterien, welche die Adäquatheit der Theorie im Hinblick auf ihre Übereinstimmung mit der Realität etablieren sollen.

Obwohl im einzelnen keine Überprüfungsprozeduren spezifiziert werden, ist also klar, dass wir es hier mit einer Korrespondenztheorie der Wahrheit zu tun haben. Dennoch sollte unterstrichen werden, dass ungeachtet der Tatsache, dass sowohl im orthodoxen als auch im marxistischen Positivismus die Erfahrung das letzte Kriterium der Wahrheit ist, letzterer den methodologischen Individualismus des ersteren ausdrücklich ablehnt. Daher werden Sinnesdaten nicht als der Ausgangspunkt des Wissens betrachtet, und ferner muss die Realität nicht auf atomare Komponenten reduziert werden, um wissenschaftlich verstanden zu werden. Darüber hinaus bleibt das Ziel die Entdeckung des Wesens hinter den Erscheinungen. Da jedoch das letzte Ziel des empiristischen Marxismus in der Entwicklung des sozialistischen Projekts aus einem utopischen Ideal zu einer Wissenschaft von Wirtschaft und Gesellschaft ist, muss der empiristische Marxist von sämtlichen nicht in die wissenschaftlichen Gesetze der Ökonomie integrierbaren Elementen der marxistischen Dialektik - und hier vor allem vom Klassenkampf - abstrahieren, um sie sodann auf eine andere Ebene der Abstraktion zu verschieben.

Meiner Ansicht nach ist der empiristische Marxismus nicht nur unfähig, die Probleme (Nichtexistenz „roher“ Fakten, Fehlen aussagekräftiger Standards zur Bewertung rivalisierender Theorien usw.) zu lösen, denen sich die orthodoxen Empiristen/Po­sitivisten gegenübersehen, sondern fügt aufgrund seiner Vagheit noch einige weitere Probleme hinzu. Ein Beispiel hierfür ist das Problem, wie bewertet werden sollte, inwieweit eine Theorie gegenüber der Erfahrung angemessen ist: durch eine Prozedur von Verifikation/Falsifi­kation, durch Erfolg in der sozialen Praxis oder durch irgendein anderes Kriterium? Untersuchen wir das Problem anhand eines konkreten Beispiels. Wie wohlbekannt ist, wird die marxistische Werttheorie den positivistischen/falsifikationistischen Anforderungen an eine wissenschaftliche Hypothese nicht gerecht. Daher haben einige Marxisten versucht, das Problem durch den (sich auf die spärlichen Schriften von Marx zur Methodologie stützenden) Vorschlag zu lösen, dass der Wert, ebenso wie „alle spezifisch Marxschen Gesetze und Entwicklungskonstrukte“, als Idealtypen im Sinne Webers betrachtet werden sollten.[54] Weber hebt jedoch hervor,[55] dass die Funktion eines Idealtyps immer im Vergleich mit der empirischen Realität besteht, womit das Problem, die Wahrheit des Idealtyps zu garantieren, weiter ungelöst bleibt.[56]

 

Ferner bleibt die Frage bestehen, wie die Unterscheidung zwischen der Praxis des sozialen Subjekts und seiner Wahrnehmung dieser Praxis beseitigt werden kann, mit anderen Worten, wie der Empirismus mit der marxistischen Dialektik versöhnt werden kann.[57] Und dann ist da auch immer noch die grundlegende Frage: Wie können wir sicher sein, dass wir das Wesen hinter den Erscheinungen entdeckt haben, besonders wenn das Wesen in Widerspruch zu den Erscheinungen steht?

 

Die zweite Hauptströmung innerhalb der szientistischen Tendenz ist die rationalistische. Ausgangspunkt ist hier die Notwendigkeit einer Konzeptualisierung der Realität, damit Wissenschaft überhaupt erst möglich wird. Daraus folgt eine Negierung der empiristischen Position, nach der Überzeugungen/Aussagen über die Realität aus einer Welt abgeleitet werden können, die erfahren wird, aber noch nicht konzeptualisiert worden ist. Die französische Schule des strukturalistischen Marxismus könnte etwa zu dieser Strömung des Marxismus gerechnet werden, obwohl die marxistischen Strukturalisten selbst ihre Einordnung als Rationalisten im obigen Sinn vielleicht abstreiten würden. Tatsächlich weisen sie größere Affinitäten zum Rationalismus auf als zu jeder anderen Tendenz oder Strömung im Marxismus.[58]

 

Für strukturalistische Marxisten ist das Problem des Wissens ein ideologisches Problem[59]; es ist ebenso ideologisch wie alle traditionelle Erkenntnistheorie. Wirkliches Thema sind für sie nicht die Kriterien für Wissenschaftlichkeit, sondern die Mechanismen, die einen Wissenseffekt hervorbringen. Die Kriterien für Wissen werden innerhalb der Wissenschaft selbst definiert, durch ihre Wissenschaftlichkeit, ihre Axiomatik. Althusser drückt das so aus:

Die theoretische Praxis ist in der Tat ihr eigenes Kriterium und enthält in sich definitive Protokolle, mit denen sie die Qualität ihrer Produkte validieren kann - und damit die Kriterien der Wissenschaftlichkeit der Produkte der wissenschaftlichen Praxis.[60]

Tatsächlich ist der Marxismus nach Auffassung der strukturalen Marxisten nicht nur eine Wissenschaft, sondern aufgrund seiner Fähigkeit zu Synthetisierung der verschiedenen Einzelwissenschaften eine überlegene Wissenschaft: die Wissenschaft aller Wissenschaften. Der Marxismus wird daher zur allgemeinen Theorie der Theoretischen Praxis und zum „Schlüssel und Richter dessen, was als echtes Wissen zu gelten hat“.[61]

 

Aber die Operation Althussers, die Philosophie der Garantien fallen zu lassen, scheitert ebenfalls. Wie mehrere (marxistische) Kritiker bemerkt haben, stützen die Anhänger Althussers ihre Theorie der Theoretischen Praxis auf eine Kohärenztheorie der Wahrheit, in der das Kriterium der Wahrheit schlicht ein umfassender Anspruch und das Fehlen von Widersprüchen zur gedanklichen Struktur des Marxismus ist.[62] Daher kann der Althussersche Marxismus nur dann Überlegenheit über andere Wissenschaften (die ebenso umfassend und widerspruchsfrei sein können) beanspruchen, wenn die im strukturalistischen Paradigma verkörperte Weltsicht a priori akzeptiert wird. Binns bemerkt dazu:

Es verhält sich nicht nur so, dass die Parameter, mittels derer die Welt untersucht werden soll, strukturspezifisch sind; dies gilt vielmehr schon für die Konzeptualisierungen der Welt, zu deren Erklärung sie verwendet werden. Die Unvereinbarkeit dieser Weltsynthesen selbst verhindert wirksam jede Demonstration der Überlegenheit irgendeiner von ihnen. Unter diesen Umständen irgendeiner dieser Synthesen den Ehrentitel der Wissenschaftlichkeit zu verleihen, wie dies der strukturalistische Marxismus tut, scheint auf willkürliche und pompöse Art in die Irre zu führen.[63]

Der Althussersche Marxismus ist daher ein klares Beispiel für objektivistischen Rationalismus, über den Castoriadis bemerkt, dass in ihm „die vergangene Geschichte rational ist, ... die zukünftige Geschichte rational ist ... die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart rational ist“.[64] Wie derselbe Autor bemerkt, folgt aus einer solchen Sichtweise der Geschichte, dass „der Marxismus die Philosophie der Geschichte nicht hinter sich lässt, sondern nur eine weitere Philosophie der Geschichte ist; die Rationalität, die der Marxismus angeblich aus den Fakten ableitet, wird diesen in Wirklichkeit übergestülpt“,[65] so dass am Ende „der Marxismus seinem Wesen nach nur noch ein durch eine rationalistische Philosophie ergänzter wissenschaftlicher Objektivismus ist“.[66] Aber wie sehr spielt, wie Castoriadis sehr deutlich zeigt,[67] das kreative und imaginäre Element in der Geschichte nur eine sehr begrenzte Rolle, nämlich genau die, die mit der Althusserschen Auffassung vereinbar ist, der zufolge die wahren Subjekte und wirklichen Protagonisten der Geschichte nicht biologische Menschen, sondern die Produktionsverhältnisse sind. Die Menschen sind in diesem Kontext (den niemand, der sich als Anhänger des marxistischen dialektischen und historischen Materialismus sehen möchte, einfach von sich weisen kann) nur die Träger [deutsch im Original, d.Ü.] oder Stützen der Funktionen, die ihnen von den Produktionsverhältnissen zugewiesen werden.[68]

 

Schließlich haben wir als jüngste Entwicklung in der marxistischen Erkenntnistheorie noch den „realistischen Marxismus“, der als Versuch einer dialektischen Synthese des modernen Empirismus/Positivismus einerseits und des Rationalismus/Kantianismus andererseits angesehen werden kann. Tatsächlich wird die realistische Erkenntnistheorie in einigen marxistischen Arbeiten der letzten Zeit als möglicher Weg zur Überwindung der gegenwärtigen Krise der marxistischen Theorie betrachtet, und zwar in dem Sinn, dass sie angeblich die Mängel sowohl des dialektischen Ansatzes (Essentialismus, Teleologie) als auch des Empirismus/Relativismus (a-theoretischer Charakter) vermeidet.[69]

 

Nach Aussage realistischer Wissenschaftsphilosophen bilden weder (wie im Empirismus/Positivismus) atomistische Ereignisse und Phänomene noch (wie im Rationalismus/Kantianismus) Modelle, das heißt, den Phänomenen übergestülpte menschliche Konstrukte den Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis. Letzterer besteht statt dessen in Strukturen und Mechanismen, die Phänomene hervorbringen, welche unabhängig von unserem Wissen und unserer Erfahrung wirksam sind. Der Definition des realistischen Philosophen Bhaskar zufolge ist Wissenschaft „der systematische Versuch, gedanklich die Strukturen und Formen des Einwirkens auf Dinge auszudrücken, die unabhängig vom Denken existieren und operieren“.[70]

 

Die realistische Definition von Wissenschaft basiert auf drei grundlegenden Annahmen: Erstens, dass die Welt strukturiert ist (was Wissenschaft überhaupt erst möglich macht); zweitens, dass die Welt ein offenes System (ein System, in dem Ereignisse nicht auf konstante Art miteinander auftreten) ist, das aus dauerhaften und auf nicht-empirische Weise aktiven natürlichen Mechanismen besteht; und drittens, dass die ontologische Ordnung vollkommen unabhängig von der epistemologischen Ordnung ist. Die letzte Annahme besagt, dass die philosophische Ontologie (Ist die Welt strukturiert/differenziert?) nicht mit epistemologischer Ontologie (Welches sind die speziellen Strukturen, die in der Welt enthalten sind?) verwechselt werden darf. Die Beziehung zwischen den beiden Ordnungen kann ausschließlich durch experimentelle Tätigkeit hergestellt werden, die uns über die Ausarbeitung strenger Bedingungen, welche die Bestätigung/Falsifikation einer Theorie ermöglichen, den Zugang zu den dauerhaften und aktiven Mechanismen liefern kann, aus denen die wirkliche Welt besteht.

 

Daher kann ein offenes System nicht (wie es die Empiristen zu tun versuchen) über das konstante Miteinanderauftreten beobachteter Phänomene angemessen erfasst werden, da die Wahrnehmung nur Zugang zu Dingen, nicht aber zu Strukturen liefert, die unabhängig von uns existieren. Demnach bringen die empiristischen Kausalgesetze nur Tendenzen von Dingen, kein Miteinanderauftreten von Ereignissen zum Ausdruck, und sind untrennbar mit geschlossenen Systemen verbunden. Die Untauglichkeit der empiristischen/positivistischen Bestätigungs- und Falsifikationskriterien geht darauf zurück, dass sie auf der Annahme basieren, ein geschlossenes System sei die Regel und nicht eine künstlich erzeugte Ausnahme. Während die Realisten nicht die von Kuhn und anderen hervorgehobene generelle Relativität der Erkenntnis ablehnen, der zufolge Beschreibungen der Welt immer theoretisch determiniert sind und sie nicht einfach auf neutrale Weise widerspiegeln, argumentieren sie dennoch, wir könnten Zugang zu den Strukturen der Welt gewinnen, sofern es uns gelingt, geschlossene Strukturen herzustellen. Eine wichtige Folge all dessen ist, dass ein Kriterium für die Auswahl zwischen miteinander unvereinbaren Theorien möglich wird. Dementsprechend sagt Bhaskar:

Selbst wenn sie mit der Terminologie Kuhns und Feyerabends unvereinbar ist, ist eine Theorie Ta einer Theorie Tb vorzuziehen, wenn Theorie Ta unter ihren Beschreibungen beinahe alle Phänomene p1 ... pn erklären kann, die Tb unter ihren Beschreibungen Bp1 ... Bpn beschreiben kann, und zusätzlich einige wichtige Phänomene, die Tb nicht erklären kann.[71]

Die Anwendbarkeit dieses Kriteriums hängt jedoch entscheidend von der Möglichkeit experimenteller Aktivität ab, eine Tatsache, die jeden Gedanken an einen methodologischen Monismus in pure Phantasie verwandelt; das realistische Sicherheitsventil, mit dem Relativismus ausgeschlossen werden soll, kann in den Sozialwissenschaften per definitionem nicht funktionieren. Der Grund dafür ist, dass es, während die Gesellschaft - wie die Realisten annehmen - ein offenes System sein mag, hier unmöglich ist, auf künstliche Art geschlossene Bedingungen zu schaffen, um unsere Theorien über sie zu bestätigen oder zu falsifizieren.

 

Die realistischen Wissenschaftsphilosophen sind sich natürlich über dieses Problem im klaren und machen sich entschlossen an den Versuch, es zu „lösen“ oder zumindest zu umgehen. So argumentiert zum Beispiel McLennan, angesichts der konstitutiven Rolle, die Handeln und Denken in Bezug auf ihren Untersuchungsgegenstand spiele, sei Gesellschaftstheorie notwendig historischen Charakters. Aber die Verfahren, die er vorschlägt, um zu verhindern, dass das Fehlen experimenteller Tätigkeit in den Gesellschaftswissenschaften zu einem gravierenden Unterschied zwischen ihnen und den Naturwissenschaften führt, sind offenkundig untauglich. So liefern die Kriterien (theoretische Abstraktion, systematische und kohärente theoretische Erklärungen auf diversen Ebenen, Erklärung konkreter Phänomene durch kausale und andere Formen von Aussagen),[72] mit denen er versucht, die „Objektivität“ der Forschung im gesellschaftlichen Bereich zu untermauern, keinerlei effektive Lösung für das Problem. Zwei paradigmatische Theorien wie die neoklassische und die marxistische Werttheorie können beispielsweise sämtliche der erwähnten Kriterien vollständig erfüllen, ohne dass es - in Abwesenheit experimenteller Tätigkeit - irgendeinen Fingerzeig für die Lösung des Problems gibt, wie man zwischen ihnen wählen soll.

 

Die unvermeidliche Schlussfolgerung ist, dass auch die realistischen Philosophen das Problem der Wahl zwischen miteinander unvereinbaren Theorien in den Sozialwissenschaften und - demzufolge - das Problem der Verwissenschaftlichung oder Objektivierung des Projekts der Befreiung nicht gelöst haben.[73]

 

Der dialektische Naturalismus: eine objektive Ethik?

 

Wenn aber das Projekt einer zukünftigen Gesellschaft nicht auf der Basis einer teleologischen Konzeption, sei es einer teleologischen Auffassung der sozialen Evolution (wie sie die Marxisten zu entwickeln versuchten), sei es einer teleologischen Auffassung der natürlichen Evolution (wie es heute einige Tiefenökologen vorschlagen[74]) gerechtfertigt werden kann, bleibt immer noch die Frage, ob ein solches Projekt auf der Basis einer nicht-teleologischen Auffassung der natürlichen und sozialen Evolution gerechtfertigt werden kann, die letztere trotzdem als objektiv rational ansieht. Genau dies zu tun versucht Murray Bookchins[75] dialektischer Naturalismus, bei dem es sich um eine explizit nicht-teleologische Konzeption handelt, obwohl er von einer Direktionalität der Entwicklung hin zu einer demokratischen ökologischen Gesellschaft - einer Gesellschaft, die aufgrund dazwischentretender Ereignisse vielleicht nie realisiert werden wird - ausgeht. So betont Bookchin:

Der dialektische Naturalismus endet nicht in einem Hegelianischen Absoluten am Ende eines kosmischen Entwicklungsweges, sondern treibt die Vision einer immerzu wachsenden Ganzheit, Fülle und Reichhaltigkeit an Differenzierung und Subjektivität voran.[76]

Der Versuch, eine Direktionalität der Entwicklung hin zu einer ökologische Gesellschaft zu etablieren, hängt in entscheidender Weise von zwei Hypothesen ab, nämlich davon:

 

(a) Dass es eine Direktionalität der natürlichen Veränderung gibt, die eine klar erkennbare evolutionäre Entwicklung zu komplexeren Formen des Lebens, größerer Subjektivität und Selbstwahrnehmung, wachsender Gegenseitigkeit, d.h., eine Entwicklung hin zu einer „immer größer werdenden Differenzierung oder Ganzheit hervorbringt, bei der Potentialität in ihrer vollen Aktualität realisiert wird“.[77] So sieht Bookchin, in Abgrenzung seines Prozesses der „partizipatorischen Evolution“ von der vorherrschenden neodarwinistischen Synthese, „eine natürliche Tendenz zu größerer Komplexität und Subjektivität in der ersten (biologischen) Natur, die aus der Interaktivität der Materie selbst entsteht, ja, einen nisus [lat: Schwung, lebendige Kraft, Trieb - d.Ü.] hin auf Selbstbewusstsein.[78]

(b) Dass es ein nahtloses evolutionäres Kontinuum zwischen unserer ersten Natur und unserer zweiten (sozialen und kulturellen) Natur gibt, so dass „jede soziale Evolution eigentlich eine Ausdehnung der natürlichen Evolution in einen distinktiv menschlichen Bereich ist“.[79] Obwohl Bookchin ausdrücklich anerkennt, dass die gesellschaftliche Evolution von der organischen Evolution fundamental verschieden ist, charakterisiert er gesellschaftliche Veränderung dennoch durch einen Fortschrittsprozess, den er als „die sich selbst leitende, auf wachsende Rationalität und Freiheit gerichtete Tätigkeit von Geschichte und Zivilisation“ definiert.[80] So entwickelt sich die „zweite Natur“ in Gestalt der Evolution der Gesellschaft „sowohl in Kontinuität zur ersten Natur als auch als ihre Antithese, bis beide im Rahmen einer rationalen und ökologischen Gesellschaft in einer ‚freien Natur’ oder einer selbstbewusst gewordenen ‚Natur’ aufgehoben werden“.[81]

Sehen wir uns diese beiden Hypothesen etwas genauer an. Was die Hypothese eines rationalen Prozesses der natürlichen Evolution betrifft, weist Castoriadis darauf hin, dass, während die Tatsache der Evolution selbst unbestreitbar ist, die Biologen nie eine echte Theorie der Evolution entwickelt haben. Das bedeutet, dass die neodarwinistische Synthese in Wirklichkeit eine Theorie der Artendifferenzierung, nicht der Evolution der Arten ist, und dass dieses theoretische Schema daher keineswegs besagt, dass die Differenzierung in der Richtung einer wachsenden Komplexität verläuft.[82] Dagegen könnte man allerdings einwenden, dass die Resultate der jüngeren biologischen Forschung die Hypothese der wachsenden Komplexität unterstützen. So wurde durch neue Entwicklungen in der Biophysik im Rahmen der Theorie der Selbstorganisation ein „Gesetz der wachsenden Komplexität“ in die Biologie eingeführt, das konsistent mit dem dialektischen Naturalismus ist.[83]

 

Aber während die Hypothese eines rationalen Prozesses der natürlichen Evolution nicht unbegründet ist, ist die Hypothese eines rationalen Prozesses der sozialen Evolution meiner Ansicht nach weder erwünscht noch haltbar. Nicht wünschenswert ist sie, weil sie einerseits unbeabsichtigte Verbindungen zur Heteronomie herstellt, und andererseits leicht unter der Hand zu Affinitäten mit unrettbar antidemokratischen Ökophilosophien führen kann. Sie ist unhaltbar, weil der geschichtliche Verlauf die Existenz eines Fortschritt zu einer freien Gesellschaft - im Sinn einer Form von sozialer Organisation, welche den höchsten Grad an individueller und sozialer Autonomie auf der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ebene sichert, eben das, was wir im fünften Kapitel als eine umfassende Demokratie definiert haben - einfach nicht hergibt.

 

So kann man erstens im Hinblick auf die Unerwünschtheit der Hypothese der sozialen Direktionalität darauf hinweisen, dass das Postulat, dem zu Folge es in der Welt eine „rationale“ Ordnung und korrespondierend dazu eine mit ihr verbundene Ordnung der menschlichen Dinge gibt, nicht nur (indem es die fundamentale Tatsache verdeckt, dass die Geschichte Schöp­fung ist) essentiell mit dem Phänomen der Heteronomie verbunden ist, son­dern auch die Frage der Verantwortung verschleiert oder eliminiert.[84] Wenn wir nicht wie die Marxisten die Bedeutung des imaginären Elements in der menschlichen Geschichte herunterspielen wollen, müssen wir daher den Schluss ziehen, dass die Etablierung gleich welcher Art von sozialer Evolution in Richtung auf eine bestimmte Form der Gesellschaft unmöglich ist:

Die Geschichte stößt der Gesellschaft nicht zu: Geschichte ist die Selbstentwicklung der Gesellschaft. Mit dieser Feststellung widersprechen wir dem gesamten Spektrum gängiger Lehrsätze: der Geschichte als dem Produkt von Gottes Willen; der Geschichte als dem Resultat des Wirkens der („natürlichen“ und „historischen“) Gesetze; der Geschichte als „subjektlosem Prozess“; der Geschichte als rein zufälligem Prozess ... wir setzen Geschichte in sich selbst als „Schöpfung und Zerstörung“ ein.[85]

Darüber hinaus könnte der Versuch, eine Direktionalität in der Gesellschaft zu etablieren, leicht unerwünschte Affinitäten zur Tiefenökologie schaffen. Obwohl die Vorstellung einer derartigen Verwandtschaft den Sozialökologen zutiefst zuwider ist, lässt sich doch die Tatsache nicht übersehen, dass sowohl Tiefenökologen als auch Sozialökologen von einem Prozess der evolutionären Entfaltung und Selbstverwirklichung ausgehen und ihre Ethik auf wissenschaftliche Beobachtungen der natürlichen Welt, auf natürliche „Tendenzen“ oder Direktionalitäten stützen. Diese Tatsache könnte weitgehend erklären, wie es zu den verschiedenen hybriden Vorstellungen kommen konnte, die derzeit von John Clark, einem ehemaligen Sozialökologen, dessen antidemokratische Ansichten wir in Kapitel 5 diskutiert haben, Peter Marshall[86] und anderen entwickelt werden. Das unvermeidliche Ergebnis solcher Affinitäten ist, dass die Debatte darüber, welche Form der Gesellschaft den Forderungen nach Autonomie und ökologischem Gleichgewicht entspricht, nicht mehr eine Frage der bewussten Wahl ist, sondern von der Interpretation dessen abhängt, was natürliche Veränderung eigentlich für die Gesellschaft bedeutet. Da es aber unmöglich ist, irgendwie „authentisch“ zu bestimmen, welche Bedeutung Veränderungen in der natürlichen Welt haben, kann es leicht passieren, dass wir am Ende nicht nur zu auf Befreiung gerichteten Interpretationen wie denen der Sozialökologie gelangen, sondern auch zu solchen, die mit jeder Form von Heteronomie und Repression, sei es nun Öko-Faschismus oder Mystizismus oder Irrationalismus, vereinbar sind.

 

Zweitens sollte in Bezug auf die Unhaltbarkeit der Hypothese der sozialen Direktionalität klargestellt werden, dass die Gesellschaft einer sich selbst organisierenden Natur gegenüber nicht „fremd“ ist, und dass Bookchins Beitrag zur Zerstörung des Dualismus von Natur und Gesellschaft von enormer und bleibender Bedeutung ist.

 

Aber während man keine Vorbehalte gegen die Hypothese haben muss, der zu Folge Selbstbewusstsein und Selbstreflexion ihre eigene Geschichte in der natürlichen Welt haben und nicht sui generis - „das Resultat eines Bruchs mit dem Ganzen der Entwicklung, der so beispiellos und einzigartig ist, dass er den graduellen Charakter aller Phänomene negiert“[87] - sind, wäre es dennoch ein großer Sprung, in Bezug auf den Fortschritt zu einer freien Gesellschaft eine vergleichbare Hypothese aufzustellen. Mit anderen Worten, selbst wenn man die Hypothese akzeptiert, dass Selbstbewusstsein und Selbstreflexion in einem sehr weitem Sinn Teil einer dialektischen Entfaltung in der Natur sind und nicht einfach einen Bruch mit der Vergangenheit darstellen, heißt dies dennoch nicht einfach, dass es eine ähnliche dialektische Entfaltung in Richtung auf eine freie Gesellschaft, d.h., eine umfassende Demokratie, gibt. Eine solche Ansicht ist unvereinbar mit der historischen Evidenz, die klar zeigt, dass die historischen Versuche zur Schaffung einer freien Gesellschaft immer das Resultat eines Bruchs mit der zuvor vorherrschenden instituierten Heteronomie gewesen sind und nicht irgend eine Art „Endprodukt“ eines Prozesses.

 

Die Tatsache, dass Gesellschaften beinahe immer und überall in einem Zustand der instituierten Heteronomie (einem Zustand des Nicht-Infragestel­lens der existierenden Gesetze, Traditionen und Überzeugungen, welche die Konzentration der politischen und wirtschaftlichen Macht in den Händen von Eliten garantieren) gelebt haben, ganz ohne eine Spur von „Evolution“ zu demokratischen Organisationsformen, welche die individuelle und soziale Autonomie sichern könnten - diese Tatsache widerlegt ganz klar jede Hypothese einer Direktionalität in Richtung auf eine freie Gesellschaft. Falls es überhaupt eine Kontinuität in der Geschichte gibt, ist es eine Kontinuität der Heteronomie, die von zumeist plötzlichen und temporären Sprüngen in „autonome“ Formen der Organisation unterbrochen wird. Dementsprechend ist eine autonome Form der politischen Organisation (direkte Demokratie) immer die seltene Ausnahme gewesen, und die autonomen Formen wirtschaftlicher und sozialer Organisation (wirtschaftliche Demokratie und „Demokratie im sozialen Bereich“) sind sogar noch seltener gewesen. Daher wir allenfalls im Hinblick auf soziale Veränderungen in einem weiten Sinn, zu dem auch die Akkumulation wissenschaftlichen und technologischen Wissens sowie Besserungen im Bereich der Geschlechterbeziehungen, der Menschenrechte usw. gehören, von einer gewissen Art von Fortschritt sprechen. Diese Veränderungen rechtfertigen jedoch in keiner Weise die Hypothese einer auf eine freie Gesellschaft, eine umfassende Demokratie gerichteten Direk­tionalität.

 

Im Hinblick auf den wissenschaftlichen und technologischen Wandel würde daher heute - besonders nach der Erfahrung dieses Jahrhunderts - kaum jemand behaupten, dass irgendeine Form von Korrelation zwischen dem Fortschritt auf diesen Gebieten und dem Grad der Autonomie besteht, den die Gesellschaft auf der politischen und der wirtschaftlichen Ebene erreicht. Ferner haben mehrere Autoren auf die wachsende Gefährdung der menschlichen Art hingewiesen, die darauf zurückgeht, dass weltweit eine Abhängigkeit von ein und der selben Technologie besteht und dass die wachsende technologische Komplexität mit einem ebenfalls wachsenden Mangel an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit einhergeht.[88] Wenn man jedoch die These von der Nicht-Neutralität der Technologie akzeptiert,[89] könnte man hier einwenden, dass die Homogenisierung der Technologie keine „unabhängige Variable“ ist, sondern einfach das unvermeidliche Ergebnis der Vermarktwirtschaftlichung der Ökonomie.

 

Die angebliche Verbesserung der Beziehungen zwischen den Geschlech­tern, Rassen und Ethnien und ganz generell im Bereich der Menschenrechte rechtfertigen kaum die Hypothese einer Direktionalität, die auf eine freie Gesellschaft im Sinne einer umfassenden Demokratie gerichtet wäre. Die verbesserte Situation in den gesellschaftlichen Beziehungen und Strukturen findet keine Entsprechung in einem vergleichbaren, auf politische und wirtschaftliche Demokratie gerichteten Fortschritt in den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen und Strukturen. Die Erweiterung und Vertie­fung der Rechte von Frauen, Minoritäten und anderen mag die gesellschaft­liche Position der Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaften verbessert haben. Aber vom demokratischen Standpunkt aus hat dieser Prozess einfach zu einer Ausdehnung der herrschenden politischen und wirtschaftlichen Eliten geführt, zu denen nunmehr auch Repräsentanten dieser Gemein­schaften gehören. Außerdem bringen diese Verbesserungen keine gravierenden Veränderungen in Bezug auf Demokratie am Arbeitsplatz, in der Ausbildung usw. mit sich. Selbst im Hinblick auf die Menschenrechte lässt sich ernsthaft fragen, inwieweit tatsächlich Fortschritte erzielt worden sind. So hat die Folter, die im Gefolge der Aufklärung in Europa im Siebzehnten Jahrhundert stark zurückgegangen und fast völlig verschwun­den war, im Zwanzigsten Jahrhundert eine umso heftigere Re­naissance erlebt. Nach einem erst vor ganz kurzem erschienenen Bericht hat sich die staat­lich praktizierte Folter gerade in Europa in dieser Zeit dramatisch ausgebreitet, und zwar in einem Maß, dass das Zwanzigste Jahrhundert vielleicht einmal als „das Jahrhundert des Folterknechts“ bezeichnet werden wird.[90]

 

Im Hinblick auf die kulturelle Ebene hat Polanyi[91] überzeugend gezeigt, dass traditionelle Kulturen und Werte durch die Etablierung der Marktwirtschaft beiseitegedrängt wurden. Wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, hat sich dieser Prozess im Zwanzigsten Jahrhundert mit der weltweiten Ausbreitung der Marktwirtschaft und der daraus folgenden Wachstumswirtschaft sowie mit der unvermeidlichen Eliminierung sämtlicher Kulturen, die nicht auf dem System der Marktwirtschaft basieren, beschleunigt. Das Ergebnis ist, dass heute ein intensiver Prozess der kulturellen Homogenisierung im Gang ist, der nicht nur jede Direktionalität zu mehr Komplexität ausschließt, sondern die Kultur in Wirklichkeit primitiver macht, da die Städte sich immer mehr aneinander angleichen und die Menschen auf der ganzen Welt die gleiche Musik hören, sich dieselben Seifenopern im Fernsehen ansehen, Konsumgüter derselben Marken kaufen usw.

 

Was, letztens, den ethischen Fortschritt, also die Entwicklung in Richtung auf moralische „Besserung“ (in Form von Gegenseitigkeit, Solida­rität usw.) betrifft, ist es bezeichnend, dass selbst Sozialdemokraten wie Habermas und Bobbio, die ein klares, sich aus ihrem politischen Standort ergebendes Interesse an der Idee des Fortschritts und der sozialen Evolution haben, sehr wohl zugeben, dass es ungeachtet des allseits anerkannten rapiden technologischen Fortschritts der letzten ungefähr 100 Jahre unmöglich ist, von der Existenz eines moralischen Fortschritts zu sprechen. So argumentiert Habermas in Entgegnung auf den Fortschrittspessimismus der Frankfurter Schule, der Irrtum des Marxismus und anderer optimistischer Theorien der sozialen Entwicklung liege in der Annahme, dass der Fortschritt auf der Ebene des Systems (der für die materielle Reproduktion der Gesellschaft gilt) automatisch eine Verbesserung auf der Ebene des moralisch-prak­tischen Bewusstseins nach sich zieht.[92] So könnte man etwa behaupten, dass zumindest in den letzten zwei bis drei Jahrhunderten ein unmissverständ­licher Trend zu wachsendem Egoismus und wachsender Konkurrenz wirk­sam gewesen und nicht zu einer Stärkung von Gegenseitig­keit und Solidarität. Ebenso ist es zumindest zweifelhaft, ob es einen ethi­schen Fortschritt zu einer Stärkung umweltpolitischer Werte gegeben hat.[93]

 

Sehen wir uns aber nun die historische Erscheinungsweise der autonomen Tradition genauer an und nehmen wir eine Einschätzung der Argumente für eine Evolution zu einer freien Gesellschaft vor. Nach der Periodisierung von Castoriadis[94] entstand das Projekt der Autonomie erstmals im klas­sischen Athen, wo die Institution der Gesellschaft zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte sowohl auf der institutionellen als auch der imaginären Ebene in Frage gestellt wurde. Dies stand im Gegensatz zum Zustand der Heteronomie, der bis dahin sämtliche Gesellschaften gekenn­zeichnet hatte und in dem „eine Gesellschaft, obwohl Gesellschaften immer Selbstschöpfungen sind, die sich ihre eigenen Institutionen schaffen, dennoch zum Schutz dieser Institutionen imaginiert und festlegt, es handele sich bei diesen nicht um menschliche Schöpfungen, sondern um außersoziale Schöpfungen: eine Schöpfung Gottes oder der Gesetze von Natur, Geschichte oder Vernunft, die wir aus genau diesem Grund nicht verändern können“.[95] Das Projekt der Autonomie, das im klassischen Athen seinen Höhepunkt erreichte, trat dann für fast fünfzehn Jahrhunderte, eine Periode, in der die Heteronomie die Vorherrschaft antrat, in den Hintergrund zurück.

 

Das Projekt der Autonomie tauchte im zwölften Jahrhundert in den mittelalterlichen freien Städten Europas erneut auf, geriet aber bald in Konflikt mit den neuen etatistischen Formen der Heteronomie, die die Versuche zu lokaler Selbstregierung und Föderalismus am Ende zerstör­ten.[96] In der Periode von 1750-1950 entwickelte sich ein heftiger politi­scher, sozialer und ideologischer Konflikt zwischen den beiden Traditionen. Die Tradition der Heteronomie findet in der Ausbreitung der Marktwirt­schaft und neuer sozialer Formen der hierarchischen Organisation ihren Ausdruck. Diese Formen verkörperten eine neue „sozial-imaginäre Signifi­kation“ (die von der sozialistischen Bewegung übernommen wurde): die grenzenlose Ausbreitung der „rationalen Herrschaft“, welche Fortschritt mit der Entwicklung der Produktivkräfte und dem Gedanken der Herrschaft über die Natur identifiziert. In derselben Periode radikalisierte sich das Projekt der Autonomie unter dem Einfluss der Ideen der Aufklärung auf der intellektuellen, sozialen und politischen Ebene (Beispiele sind die Pariser Sektionen der frühen neunziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts, die Kollektive im spanischen Bürgerkrieg usw.)

Und schließlich sind beide Traditionen in der heutigen Ära (etwa seit 1950) in eine ernste Krise eingetreten. Ungeachtet der beschleunigten Ausbreitung der von der Marktwirtschaft ausgehenden rationalen Herrschaft ist das System selbst in einer tiefen Krise, einer Krise nicht im marxistischen Sinn, in dem kapitalistische Produktionsverhältnisse die weitere Entfaltung der Produktivkräfte behindern, sondern im in den vorigen Kapiteln skizzierten Sinn. Hier wäre erstens das elende Scheitern der Marktwirtschaft bei der Etablierung einer erfolgreichen Wachstumswirtschaft im Süden (wo die große Mehrheit der Weltbevölkerung lebt) und zweitens die immer raschere ökologischen Zerstörung zu nennen, die nicht nur die Lebensqualität vermindert, sondern das Leben auf dem Planeten selbst bedroht. Paradoxerweise befindet sich die Tradition der Autonomie nach ihrer kurzen Explosion Ende der sechziger Jahre ebenfalls in einem Zustand des „totalen Niedergangs“, eine Tatsache, die durch das Fehlen sozialer, politischer und ideologischer Konflikte illustriert wird.

Daher stellt sich hier die Frage, ob Veränderungen der historischen Formen der gesellschaftlichen Organisation - wie der dialektische Naturalismus meint - irgendeine Art von Gerichtetheit auf eine freie Gesellschaft aufwei­sen, welche die graduelle Aktualisierung der Entfaltung des menschlichen Potentials (im dialektischen Sinn des Wortes) zur Freiheit repräsentiert, oder ob es hier keinerlei Form von Direktionalität gibt, weil von der Gesell­schaft jeweils angenommene Form jedesmal nur soziale Schöpfungen repräsentiert, die durch räumliche und zeitliche Beschränkungen durch Zeit sowie durch institutionelle und kulturelle Faktoren bedingt (aber nicht de­terminiert) sind. Die erste Auffassung betrachtet die Geschichte als einen Prozess des Fortschritts, der Entfaltung der Vernunft, und geht davon aus, dass es eine Evolution gibt, die auf autonome oder demokratische Formen der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Organisation gerichtet ist - eine Auffassung, die meiner Ansicht nach durch die Geschichte nicht gestützt wird. Die zweite Auffassung betrachtet die autonome Gesellschaft als einen Riss, einen Bruch in der historischen Kontinuität, die von der heteronomen Gesellschaft historisch etabliert worden ist.

Natürlich ist die Unterscheidung zwischen „Autonomie/Heteronomie“ nicht zu hundert Prozent haltbar. Autonome und heteronome Formen der sozialen Organisation interagieren historisch miteinander, und Elemente beider For­men koexistieren in ein und derselben Gesellschaft. So war, wie wir in Kapitel 5 gesehen haben, die Demokratie Athens eine Gesellschaftsform, die starke Elemente von Autonomie (direkte Demokratie - zumindest für die freien Bürger), aber auch von Heteronomie (wirtschaftliche Ungleichheit, geschlechtliche Ungleichheit, Sklaverei - für die restlichen Mitglieder der Gesellschaft) enthielt. Darüber hinaus gibt es in den hochentwickelten heteronomen Gesellschaften von heute einige Elemente von Autonomie, die meist Überreste vergangener Konflikte zwischen der Tradition von Autonomie und Heteronomie darstellen. Wenn wir von der Interaktion zwischen Autonomie und Heteronomie ausgehen und dementsprechend ausdrücklich annehmen, dass die beiden Traditionen sich im Lauf der Zeit in sich selbst und in gewissem Maß auch gegenseitig verändern, müssen wir erstens fragen, ob die beiden Traditionen qualitativ verschieden sind, und zweitens, falls sie es sind, ob dann ein evolutionäres Muster etabliert werden kann, das auf eine autonome Form der sozialen Organisation gerichtet ist.

Was die erste Frage betrifft, würde meines Erachtens kaum jemand die These bestreiten, dass Autonomie und Heteronomie nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ verschieden sind. Historisch gesehen drücken sich die Tradition der Autonomie und der Heteronomie in verschiedenen Formen der sozialen Organisation aus: erstere in Form der Demokratie Athens, der Schweizer Kantone, der französischen revolutionären Sektionen, um nur ein paar Beispiele zu erwähnen, letztere dagegen in Form absoluter und konsti­tutioneller Monarchien, parlamentarischer „Demokratien“ und des Staats­sozialismus. Das gemeinsame Kennzeichen autonomer Formen der sozialen Organisation ist, dass sie alle auf dem fundamentalen Prinzip der Gleichheit der Verteilung der politischen Macht basieren, während für alle hetero­nomen Formen das Gegenteil gilt. Von daher ist klar, dass die Unterschiede zwischen den verschiedenen Typen der heteronomen (und ebenso der autonomen) Formen der sozialen Organisation quantitativ sind, während die Unterschiede zwischen der autonomen und der heteronomen Form selbst qualitativ sind. Autonomie und Heteronomie sind zwei grundlegend verschiedene Traditionen, die völlig verschiedene „Paradigmen“ des sozia­len Lebens zum Ausdruck bringen: Sie sind miteinander unvereinbar. Die Frage ist daher hier, ob, wie es das berühmte Hegelsche „Gesetz“ behauptet, quantitative Unterschiede jenseits eines gewissen Punktes in qualitative Veränderungen umschlagen, oder ob im Gegenteil keine Möglichkeit der Etablierung irgendeines evolutionären Prozesses zwischen der Tradition der Autonomie und der Tradition der Heteronomie besteht.

 

Dies bringt uns zu der zweiten eben aufgeworfen Frage. Dem dialektischen Naturalismus zufolge besteht „zwischen [Autonomie und Heteronomie] eine Dialektik, die in ihrer gesamten Komplexität, in der es sowohl Inter­aktionsbeziehungen als auch Antagonismen gibt, aufgeschlüsselt werden muss“,[97] während laut meiner hier erläuterten Auffassung ungeachtet der Entwicklung innerhalb jeder Tradition und ihrer möglichen Interaktionen dennoch keine Entwicklung zwischen ihnen etabliert werden kann. So lässt sich durchaus dafür argumentieren, dass die Unterschiede zwischen den heteronomen politischen Regimes ungeachtet der Tatsache, dass die kon­stitutionelle Monarchie tatsächlich Ausdruck einer entwickelteren Form der Heteronomie war als die absolute Monarchie, und dass unter demselben Gesichtspunkt die parlamentarischen „Demokratie“ in der Tat die entwickeltste Form der Oligarchie in der Geschichte darstellt, den Umfang und die Zusammensetzung der herrschenden Eliten, nicht aber die fundamentale Scheidung zwischen den herrschenden Eliten und dem Rest der Bevölkerung selbst betreffen - eine Scheidung, welche die große Mehrheit der Bevölkerung von jeder effektiven Teilnahme an politischen Entscheidungen ausschließt. Ganz parallel dazu brachten die Pariser Sektio­nen Anfang der neunziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts,[98] in denen die Frauen einen gleichen Anteil an der Verteilung der politischen Macht hatten, eine vollständigere Form der Demokratie zum Ausdruck als die Ver­sammlungen in Athen. Und schließlich brachten die spanischen Kollektive während des Bürgerkriegs,[99] die ein bedeutsames Element wirtschaftlicher Demokratie enthielten, eine vollständigere Form von Autonomie zum Ausdruck als die Versammlungen beider gerade erwähnter Städte.

 

Obwohl klar ist, dass der Bruch mit der Tradition der Heteronomie zu einer spezifischen Zeit und an einem spezifischen Ort stattfindet und dass daher Geschichte, Tradition und Kultur gewiss die Form bedingen, die die Gesellschaft annimmt, legen institutionelle und historische Faktoren nie fest, wann und wo dieser Bruch stattfinden wird, oder auch nur, welche spezifische Form die autonome Organisation der Gesellschaft annehmen wird. Eine autonome Form der Gesellschaftsorganisation ist immer eine Schöpfung gewesen, die einen Bruch mit vorherigen Entwicklungen zum Ausdruck bringt. Die seltenen historischen Fälle relativ freier Formen ge­sellschaftlicher Organisation entstanden als Resultat der Tatsache, dass in bestimmten historischen Momenten und aus Gründen, die nur partiell mit den konkreten historischen Umständen zu tun haben, sozialimaginäre Signifikationen, die das Projekt der Autonomie ausdrückten, hegemonial gewor­den waren und einen Bruch des dominanten sozialen Paradigmas der Heteronomie herbeiführten.[100] Dass solche Brüche sich nicht in ein sich entfaltendes dialektisches Muster der Geschichte fügen und nicht einmal als „Reaktionen“ auf heteronome Formen der Organisation betrachtet werden können, wird durch die Tatsache offensichtlich, dass ähnliche, wenn nicht identische institutionelle und geschichtliche Bedingungen geschichtlich wiederholt zu sehr verschiedenen Formen der sozialen Organisation geführt haben. In aller Regel führten sie zu heteronomen Formen der sozialen Organisation und nur sehr ausnahmsweise zu Versuchen, Autonomie herzu­stellen.

 

Die klassische Athener Demokratie ist hierfür ein typisches Beispiel. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Ablösung der Blutsbande des Stammes durch bürgerlichen Bindungen eine Form von Entwicklung darstellt. Die Frage ist, ob diese Entwicklung eine Entwicklung innerhalb der heteronomen Tradition ist oder sich zwischen ihr und der autonomen Tradition abspielt. Obwohl sich in Stammesgesellschaften Elemente autono­mer Organisation (wie z.B. Stammesversammlungen) vorfinden mögen, würde ich die Meinung vertreten, dass die Ablösung der Stämme durch Städte vorwiegend eine Entwicklung innerhalb der heteronomen Form der sozialen Organisation darstellt, bei der es sich nur in einem Ausnahmefall (der Athener Demokratie) um eine Entwicklung zu einer neuen Form von autonomer Organisation handelt. Diese Tatsache wiederum illustriert die Bedeutung des imaginären oder kreativen Elements in der Geschichte, aber nicht irgendeine Art von evolutionärem Muster im Bereich der politischen Organisation. Wie Castoriadis es ausdrückt:

Demokratie und Philosophie sind nicht das Ergebnis natürlicher oder spontaner Tendenzen von Gesellschaft und Geschichte. Sie sind selbst Schöpfungen und sie bringen einen radikalen Bruch mit dem zuvor instituierten Zustand mit sich. Beide sind Aspekte des Projekts der Autonomie ... die Griechen [entdeckten] im sechsten und fünften Jahrhundert v. Chr., dass Institutionen und Repräsentationen zum nomos und nicht zur physis gehören, dass sie menschliche Schöpfungen und nicht „gottgegeben“ oder „naturgegeben“ sind.[101]

Eine auf einem evolutionären Muster basierende Auffassung der Geschichte könnte nicht erklären, weshalb eine ähnliche Bewegung von Stämmen zu Städten in vielen Teilen der Welt, sogar im klassischen Griechenland selbst, auf der einen Seite zur klassischen Demokratie Athens geführt hat, auf der anderen aber zu einer Reihe von oligarchischen, wenn nicht sogar despo­tischen Formen der politischen Organisation. Natürlich würde kaum jemand bestreiten, dass bei jeder dieser historischen Gelegenheiten spezifische „objektive“ Faktoren (Geographie, Klima usw.) eine bedeutende - aber nie ent­scheidende Rolle - gespielt haben. Fraglich ist hier jedoch, ob es ein langfristiges Muster sozialer Evolution gegeben hat, das dann zur klassi­schen Demokratie Athens geführt hat - einem Experiment, das damals in dieser vollständig demokratischen Form anderswo keine Parallele hatte und erst Hunderte von Jahren später wieder neu erstand.

 

Die parlamentarische „Demokratie“ ist ein weiteres Beispiel. Wie wir in Kapitel 5 gesehen haben, ist die parlamentarische Demokratie keine Form der politischen Demokratie: In der Form, wie sie sich im Westen entwickelt hat, kann sie besser als eine Form von liberaler Oligarchie beschrieben werden. Die parlamentarische Demokratie kann aber außerdem auch in keiner Weise als ein Stadium in der Entwicklung von Demokratie betrachtet werden. Das wird zum einen daran offensichtlich, dass die direkte Demokratie historisch der parlamentarischen „Demokratie“ vorausging. Außerdem hat jedoch auch die Erfahrung der letzten beiden Jahrhunderte gezeigt, dass die parlamentarische Demokratie, sofern sie überhaupt eine Evolution durch­macht, lediglich eine weitere Konzentration der politischen Macht in den Händen professio­neller Politikereliten auf nationaler oder supranationaler Ebne hervorbringt. Die gesellschaftliche Entwicklung ist im Hinblick auf die politische Organisation nicht „kumulativ“; sie führt also nicht von verschiedenen Formen von „Demokratie“, die quantitative Unterschiede zum Ausdruck bringen (wie die konstitutionelle Monarchie, die parlamentarische Demokratie usw.), zur direkten Demokratie - die natürlich eine qualitative Veränderung wäre.

 

Und so ist auch die Marktwirtschaft nicht (wenn vielleicht auch sehr entfernt) mit wirtschaftlicher Demokratie verwandt und bildet auch keine Entwicklungs­stufe dorthin. Wie ich in Kapitel 1 zu zeigen versucht habe, ist die heutige Marktwirtschaft ganz im Gegenteil gegenüber gesellschaftlich kontrollierten Wirtschaften der freien Städte des Mittelalters ein definitiver Rückschritt. Ferner bringt der Markt, sofern er überhaupt eine Evolution durchmacht, eine verstärkte Konzentration der wirtschaftlichen Macht hervor, und es besteht keinerlei Aussicht, dass eine Marktwirtschaft jemals durch kumu­lative quantitative Veränderungen zur qualitativen Veränderung der wirt­schaftlichen Demokratie führen wird.

 

Und schließlich standen die diversen Versuche einer „Demokratie im sozia­len Bereich“, besonders einer Demokratie am Arbeitsplatz (Arbeiterräte, Sowjets) und zur Herstellung von Demokratie in den Bildungsinstitutionen immer mit historischen „Augenblicken“ des Aufstands in Verbindung, und sobald die „Ordnung“, entweder durch die Institutionalisierung eines „revolutionären“ Regimes der Heteronomie (z.B. die Sowjetunion) oder die Fortsetzung des alten, wiederhergestellt war, wurden die demokratischen Formen immer wieder durch Formen der Pseudodemokratie am Arbeits­platz, an den Universitäten usw. ersetzt worden.

 

Es ist unmöglich, irgendeine Art von evolutionärem Prozess in Richtung auf eine freie Gesellschaft, auf das, was wir als eine umfassende Demokratie bezeichnet haben, zu postulieren. Die historischen Versuche zur Etablierung autonomer Formen politischer, sozialer und wirtschaftlicher Demokratie können, obwohl sie natürlich nicht ab novo erschienen sind, nicht in irgendeinen großen evolutionären Gesamtprozess integriert werden. Das geht klar aus der Tatsache hervor, dass solche Versuche zu spezifischen Zeiten, an spezifischen Orten und als Bruch mit vergangenen Entwicklun­gen stattfanden und nicht in mehreren Gesellschaften auf derselben Entwicklungsstufe und als Fortsetzung dieser Stufe. Auch wenn die Ideale der Freiheit ungeachtet der Entwicklungen der letzten 25 Jahre im Lauf der Zeit eine größere Verbreitung gefunden haben mögen, wurde diese Expansion nicht von einer entspre­chenden Evolution in Richtung auf eine autonome Gesellschaft im Sinne größerer Partizipation der Bürger an den Entscheidungsprozessen begleitet. Tatsächlich sind der Zerfall der Ge­meinden, der durch das Entstehen der Marktwirtschaft vor 200 Jahren intensiviert und durch die Entwicklung der heutigen internatio­nalisierten Marktwirtschaft beschleunigt wurde, und die durch die Konsum­gesellschaft geförderte immer stärkere Ausrichtung der Individuen auf Privat­sphäre und Eigeninteressen klare Anzeichen für einen Trend zu heteronomeren Formen der Gesellschaft, und nicht in die umge­kehrte Richtung. Wenn wir daher die in Kapitel 1 entwickeln Auffassung akzeptieren, der zu Folge die gegenwärtige internationalisierte Marktwirtschaft eine neue, höhere Phase des Prozesses der Vermarktwirtschaftlichung darstellt, dann deutet in der Tat alles darauf hin, dass wir in eine neue Periode eingetreten sind, in der die „40-Prozent“-Gesellschaften des Nordens auf ausgereiften Formen der Heteronomie basieren werden, während die verarmten Gesellschaften des Südens sich auf diverse Formen eines brutalen Autoritarismus stützen werden.

 

Falls also jemals eine umfassende Demokratie an die Stelle der heutigen heteronomen Formen der politischen und wirtschaftlichen Organisation tre­ten sollte, kann man davon ausgehen, dass dies nicht die Aktualisierung sich entfaltender Potentiale für Freiheit sein wird, sondern ganz einfach die be­wusste Wahl unter zwei gesellschaftlichen Möglichkeiten, die schematisch als die Möglichkeit der Autonomie und die Möglichkeit der Heteronomie gefasst werden können. Mit anderen Worten, meiner Auffassung nach ist die dialektische Idee einer Entfaltung objektiv vorhandener Potentiale, von latenten Möglichkeiten, die aktualisiert werden können (oder auch nicht), auf den Fall gesellschaftlicher Veränderungen gar nicht anwendbar. Um von einer speziellen Seinsform sprechen zu können, die bei der Entwicklung ihrer selbst aktualisiert, was zunächst nur eine latente Möglichkeit war, und auf diese Weise zu ihrer eigenen Wahrheit gelangt, müssten wir zunächst einmal vom Vorhandensein einer spezifischen Möglichkeit ausgehen, nicht von einer Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten. Während es richtig ist, dass ein Samen das Potential hat, zu einer Eichel zu werden, und ein Em­bryo das Potential besitzt, sich zu einem voll ausgereiften und kreativen erwach­senen Menschen zu entwickeln, können wir diese Analogie nicht auf die menschliche Gesellschaft ausdehnen und davon ausgehen, dass das Potential der Gesellschaft, frei zu werden, diesen natürlichen Möglichkeiten „äquivalent ist“.[102] Der offenkundige Unterschied zwischen den Potentialen von Eicheln und menschlichen Embryos, zu Eichen bzw. erwachsenen Menschen zu werden, und den Potentialen der Gesellschaft, frei zu werden, ist der, dass es bei den erstgenannten Beispielen nur um eine einzige Möglichkeit geht, während im zweiten Fall unter zwei globalen Möglichkeiten eine ausgewählt werden muss: entweder Autonomie oder Heterono­mie. Anders gesagt, wenn wir daran denken, dass „die Geschichte der griechisch-westlichen Welt selbst als die Geschichte des Kampfes zwischen Autonomie und Heteronomie angesehen werden kann“, wird klar, dass die heteronomen Formen der Gesellschaft, die diese Geschichte dominiert haben, nicht einfach als „vorübergehende Ereignisse“ betrachtet werden können,[103] analog denen, die eine Eichel daran hindern können, zu einer Eiche zu werden. Davon auszugehen, dass die Möglichkeit der Autonomie ein sich entfaltendes und daher rationales Potential (im dialektischen Sinn des Wortes) ist, und umgekehrt die Möglichkeit der Heteronomie einfach als eine Fähigkeit zum Irrationalen hinwegzueskamotieren,[104] könnte leicht als willkürliche Objektivierung der einen Möglichkeit zuungunsten der anderen erscheinen, um unsere Entscheidung für die Tradition der Autono­mie unter dem Deckmantel dialektischer „Objektivität“ zu verbergen.

 

Von daher lassen sich ernste Einwände gegen die klassisch marxistischen und anarchistischen Auffassungen erheben, die von der Idee eines dialekti­schen Fortschritts in der Geschichte ausgehen. So sollten wir nicht verges­sen, dass aus der Idee des Fortschritts auch die Zustimmung zu Schlüssen, wie sie der Marxismus über die „progressive“ Rolle des Kolonialis­mus gezogen hat,[105] oder zu der anarchistischen Entsprechung dieser Idee folgt, nach welcher der Staat ein „gesellschaftlich notwendiges Übel“ ist.[106] Wenn wir jedoch den Standpunkt beziehen, dass es keinen unilinearen oder dialektischen Prozess des Fortschritts, und dementsprechend auch keinen evolutionären Prozess hin zu Formen gesellschaftlicher Organisation gibt, die auf Autonomie basieren, und statt dessen davon ausgehen, dass die historischen Versuche zur Schaffung von Demokratie einen Bruch mit der Vergangenheit darstellen, können Formen der sozialen Organisation wie der Kolonialismus und der Staat schlicht und einfach als „soziale Übel“ be­trachtet werden, die nichts „Notwendiges“ an sich haben, weder, was ihr Entstehen in der Vergangenheit, noch was die Form angeht, die gesellschaftliche Veränderungen seitdem angenommen haben oder in Zukunft annehmen werden.

 

Wir könnten daher zu dem Schluss kommen, dass die Logik der Entwick­lung der Gesellschaft nicht zeigt, dass sie dazu konstituiert ist, im Sinne der Aktualisierung eines latenten Potentials zur Freiheit autonom zu werden. Aber auch wenn die Hypothese der Direktionalität der gesellschaftlichen Veränderung und eines rationalen historischen Prozesses unhaltbar ist, stellt sich dennoch die Frage, ob die Entwicklung einer „objektive“ Ethik mög­lich ist, die in der Lage ist, Formen der sozialen Organisation auf Basis des Grades, in welchem sie die Aktualisierung des latenten Potentials zur Frei­heit repräsentieren, als „gut“ oder „schlecht“ zu bewerten. Die offensichtli­che, aus der obigen Analyse folgende Kritik an einem solchen Projekt ist aber, dass jeder Versuch zur Entwicklung einer auf der Annahme eines Prozesses der sozialen Evolution basierenden objektiven Ethik wenig mehr als den Versuch darstellt, die Notwendigkeit einer bewussten Wahl zwischen den Traditionen Autonomie und Heteronomie, zwischen demokratischer und nichtdemokratischer Gesellschaft zu kaschieren.

 

So besteht Murray Bookchin natürlich zu Recht darauf, dass wir uns bei der Entwicklung einer demokratischen Ethik eine nicht-hierarchische Interpre­tation der Natur zu eigen machen sollten,[107] aber wir sollten dennoch nicht vergessen, dass dies nur eine der möglichen Formen der Interpretation der Natur ist, die wir bewusst gewählt haben, gerade weil sie mit unserer Entscheidung für die Autonomie vereinbar ist. Das ist offensichtlich etwas ganz anderes als die Annahme, der zu Folge eine nicht-hierarchische Inter­pretation der Natur „objektiv“ gegeben ist und folglich eine demokratische Gesellschaft das Produkt einer kumulativen Entwicklung, eines rationalen Prozesses der Realisierung des Potentials zur Freiheit sein wird. Meiner Ansicht nach untergräbt der Versuch der Sozialökologie zur Entwicklung einer objektiven Ethik nicht nur ihre demokratische Glaubwürdigkeit, sondern liefert auch eine billige Zielscheibe für diverse Etatisten und Irrationalisten, wie sich an der Tatsache zeigt, dass die meisten Angriffe gegen die Sozialökologie gegen deren Philosophie gerichtet werden.[108]

Eine demokratische Gesellschaft wird ganz einfach eine soziale Schöpfung sein, die wiederum nur in unserer eigenen bewussten Auswahl derjenigen Formen der sozialen Organisation gründen kann, die der individuellen und sozialen Autonomie förderlich sind. Ein wichtiger Nebeneffekt dieses An­satzes ist, dass er es gerade in dem Augenblick, in dem die meisten Gewissheiten nicht nur in den Sozial-, sondern auch in den Naturwissenschaf­ten sich als unhaltbar erweisen, vermeidet, in die Falle einer Begründung der freien Gesellschaft durch „gesicherte“ Wahrheiten zu gehen.

Die Tatsache, dass eine demokratische Gesellschaft eine bewusste Wahl darstellt, bedeutet jedoch nicht, dass diese Wahl einfach willkürlich wäre. Das folgt schon allein aus der Tatsache, dass das Projekt der Autonomie in der Geschichte wieder und wieder auftaucht, besonders in Perioden der Krise der heteronomen Gesellschaft. Außerdem ist die Tatsache, dass die heteronome Gesellschaft immer die vorherrschende Form der sozialen Organisation gewesen ist, kein Beweis für ihre intrinsische Überlegenheit gegenüber einer autonomen Gesellschaft. Heteronome Gesellschaften wur­den immer von privilegierten Eliten geschaffen und aufrechterhalten, die mittels (militärischer, ökonomischer) Gewalt und/oder indirekter Formen der Kontrolle (Religion, Ideologie, Massenmedien) die Institutio­nalisierung von Ungleichheit in der Verteilung der Macht durchzusetzen versuchten.

Und schließlich beraubt uns die Begründung einer freien Gesellschaft durch eine bewusste Wahl keineswegs eines ethischen Kriteriums, anhand dessen wir die verschiedenen Formen gesellschaftlicher Organisation bewerten können. In der Tat ist der Grad, in dem eine Form der sozialen Organisation eine gleiche Verteilung politischer, wirtschaftlicher und sozialer Macht sicherstellt, ein ausgezeichnetes Kriterium zu ihrer Bewer­tung. Aber dabei handelt es sich um ein Kriterium, das wir selbst gewählt haben und das sich nicht durch irgendeine Art von evolutionärem Prozess aufdrängt. Mit anderen Worten, es ist ein Kriterium, das konsistent mit der Auffassung ist, die ich im nächsten Abschnitt entwickeln werde, der zu Folge das Projekt einer demokratischen Gesellschaft weder auf Szien­tismus und Objektivis­mus noch auf Utopismus und Irrationalismus gegründet werden kann.

 

Jenseits von „Objektivismus“, Irrationalismus und Relativismus


 

Die Schlüsse, die sich aus der oben skizzierten Analyse ziehen lassen, las­sen sich wie folgt klassifizieren:

 

(a) Paradigmen in Bezug auf die soziale Realität, die ein Projekt der Befreiung begründen könnten, können im Kuhn­schen Sinn miteinander unvereinbar sein. Insoweit die Formulierung der Paradigmen die Frage betrifft, ob das gegenwärtige Gesellschaftssystem als gegeben voraus­gesetzt werden soll oder nicht, ist diese Unvereinbarkeit sogar unver­meidlich. So ist die Inkommensurabilität zwischen dem orthodoxen und dem marxistischen Paradigma in Bezug auf die Wirkungsweise des Marktes, oder zwischen der Sozialökologie und der Tiefenökologie im Hinblick auf die Ursachen der ökologischen Krise[109], in dem Sinn absoluter, als sie auf tiefe Unterschiede nicht nur in der Weltanschau­ung, sondern auch in den Kriterien und Methoden zur Bewertung von Theo­rien schließen lässt. So schreibt etwa Feyerabend:

Wissenschaftliche Theorien ... verwenden verschiedene (und gele­gentlich miteinander unvereinbare) Konzepte und bewerten Ereig­nisse auf verschiedene Art. Was als Evidenz oder als wichtiges Re­sultat oder als „vernünftige wissenschaftliche Prozedur“ gilt, hängt von Einstellungen und Urteilen ab, die sich im Lauf der Zeit, von Beruf zu Beruf und gelegentlich sogar von Forschungsgruppe zu Forschungsgruppe ändern.[110]

(b) Im Falle einer solchen Unvereinbarkeit gibt es keine objektiven Krite­rien, anhand derer sich zwischen konkurrierenden Paradigmen wählen ließe, woraus folgt, dass die einzige Weise, wie man von einer „Art, die Dinge zu sehen“, zu einer anderen wechseln kann, ein Prozess der Konversion ist, und nicht ein Prozess der Produktion weiterer Evidenz, der rationalen Argumentation usw., die lediglich paradigmenabhängige Methoden zur Etablierung der „Wahrheit“ einer Theorie darstellen.

Es ist jedoch nicht nur die Objektivität des Projekts der Befreiung, die - ge­linde gesagt - zweifelhaft ist. Ebenfalls in Frage steht, ob es überhaupt wünschenswert ist, dieses Projekt auf objektiver Basis zu begründen. Wie wir in Kapitel 5 gesehen haben, besteht das Wesen der Demokratie nicht einfach in ihren Institutionen, sondern darin, dass es sich bei ihr um einen konstanten Prozess der Debatte und Entscheidung über Institutionen und Traditionen handelt.[111] In diesem Sinne könnte man argumentieren, dass das sozialistische Projekt im selben Maß, wie es „verwissenschaftlicht“ wird, zum Teil der Tradition der Heteronomie wird. Eine klare Illustration dieses Prozesses ist der Fall des „realexistierenden Sozialismus“. Gerade die Ver­wandlung des sozialistischen Projekts in eine „objektive“ Wissenschaft hat in bedeutendem Maß zur Etablierung neuer hierarchischer Strukturen ge­führt, zunächst nur innerhalb der sozialistischen Bewegung und später dann in der gesamten Gesellschaft. Die Basis der neuen hierarchischen Strukturen war die soziale Spaltung, die auf diese Weise zwischen der Avantgarde, die aufgrund ihrer Kenntnis der im Marxismus verkörperten wissenschaft­lichen Wahrheit die einzige Kraft war, die sich in einer objektiven Position zur Führung der Bewegung befand, und den „Massen“ geschaffen wurde. Es ist ja eine bekannte historische Tatsache, dass in den vorrevolutionären marxi­stischen Bewegungen und den postrevolutionären Regierungen die Recht­fertigung der Konzentration der Macht in den Händen der Parteielite auf der „Tatsache“ basierte, dass sie allein „wusste“, wie die Geschichte zu inter­pretieren sei und welche angemessenen Schritte zu unternehmen waren, um den historischen Prozess zum Sozialismus hin zu beschleunigen. Oder wie Marcuse sagte: „Von Lenins ‚von außen hereingetragenem Bewusstsein’ und seiner Vorstellung von einer zentralisierten autoritären Partei führt eine gerade Linie zum Stalinismus.“[112] Dies trifft nicht nur deshalb zu, weil Le­nin zufolge die Arbeiter nicht imstande sind, von sich aus eine wissen­schaftliche Theorie des Sozialismus zu entwickeln (eine Aufgabe, die ge­schichtlich den Intellektuellen vorbehalten geblieben ist)[113], sondern auch deshalb, weil die Wächter der wissenschaftlichen Orthodoxie, „die Partei, oder besser gesagt, die Parteiführung, als der historische Träger der ‚wah­ren’ Interessen des Proletariats und über dem Proletariat erscheinen“.[114]

 

In ähnlicher Weise ist es in den kapitalistischen Gesellschaften die Mysti­fikation vom „Experten“, die den Technokraten erlaubt, ihre „Lösungen“ für wirtschaftliche und soziale Probleme zu präsentieren, als basierten sie auf einer auf wissenschaftlichen Prämissen aufgebauten „objektiven“ Theo­rie. In Wirklichkeit basiert ihre Theorie in hohem Maß auf Annahmen, die den bestehenden Status Quo des Systems der Marktwirtschaft und alles, was daraus im Hinblick auf die Ungleichheit in der Verteilung von Ressourcen, Einkommen und Besitz folgt, voraussetzen. So hat die Trennung der Gesell­schaft von Staat und Wirtschaft die Politik und die Verwaltung der Wirt­schaft in eine „Kunst“ bzw. in eine „Wissenschaft“ verwandelt, in denen „Experten“ (Berufspolitiker, Ökonomen usw.) eine ausschlaggebende Rolle im Entscheidungsprozess spielen. Im Gegensatz dazu besagte eines der funda­mentalen Prinzipien der Demokratie Athens (in der es keine Trennung der Gesellschaft vom Staat gab), dass es in der Politik keine Wissenschaft gibt, sondern nur die Meinungen der Bürger. Wie Castoriadis hervorhebt, waren es die alten Griechen, die die Idee einführten, dass

es in politischen Angelegenheiten keine Wissenschaft im Sinn eines systematischen, auf Evidenz, Fachausbildung usw. basierenden Wissens gibt, sondern nur doxa, d.h., die Meinung von Menschen, die natürlich ebenfalls ausgebildet werden sollte und durch Erfahrung an Qualität gewinnt, aber nicht Wissenschaft ist.[115]

Was ist die Grundlage von Freiheit und Demokratie?

Auch wenn wir, wie ich in Kapitel 5 unterstrichen habe, die Beziehung zwischen Freiheit/Autonomie auf der einen und Demokratie auf der anderen Seite als gegeben voraussetzen können, bleibt immer noch die Frage nach den Grundlagen der Demokratie, ja sogar der Freiheit selbst. Die meisten Libertären von Godwin bis Bakunin und Kropotkin haben ihre Ethik und Politik und auch die Freiheit selbst traditionell auf eine feststehende menschliche Natur gegründet, die von „notwendigen und universalen Gesetzen“ regiert wird, womit sie - im Gegensatz zu den Marxisten, die wirt­schaftliche Gesetze her­vorhoben - im allgemeinen Naturgesetze meinten. Darin spiegelte sich dieselbe Versuchung des neunzehnten Jahrhunderts wi­der, die Marx dazu brachte, seine „wissenschaftlichen“ ökonomischen Ge­setze zu entwickeln, nämlich die Versuchung, dem Projekt der Befreiung einen „wissenschaftlichen“ oder zumindest „objektiven“ Anstrich zu geben. Dieser Ansatz ist jedoch nicht mehr haltbar, weil es heute, zumindest was das Verständnis sozialer Phänomene betrifft, nicht mehr möglich ist, von Objektivität zu sprechen.

Es ist daher kein Zufall, dass einige Libertäre (Benello, Brown, Marshall et al.) heute die traditionelle Verankerung der Freiheit in einer feststehenden menschlichen Natur oder „wissenschaftlichen“ Gesetzen und „objektiven“ Tendenzen anzweifeln. Einige von ihnen verbinden diese Infragestellung jedoch meist mit liberalen, individualistischen Annahmen über die Gesell­schaft. Aber wenn wir uns wie in Kapitel 5 eine Definition von Freiheit in Be­griffen von individueller und kollektiver Autonomie zu eigen machen, ist es möglich, der Falle des Objektivismus zu entgehen, ohne in liberalen Individualismus zu verfallen.

 

Außerdem ermöglicht eine Definition von Freiheit über Autonomie, Demo­kratie nicht einfach als Struktur zu sehen, welche die gleichberechtigte Auf­teilung der Macht institutionalisiert, sondern auch als einen Prozess der sozialen Selbstinstituierung, im dessen Kontext Politik einen Ausdruck so­wohl kollektiver als auch individueller Autonomie bildet. So nimmt Politik als Aus­druck kollektiver Autonomie die Form der Infrage­stel­lung der beste­henden Institutionen und ihrer Veränderung durch bewusste kollektive Aktion an. Darüber hinaus stellt die polis, als Ausdruck individueller Auto­nomie, „mehr als das menschliche Überleben sicher. Politik macht die Ent­wicklung des Menschen als Wesen möglich, das echter Autonomie, Freiheit und Brillanz fähig ist.“[116] Das ist besonders wichtig angesichts des geläufi­gen Irrtums in libertären Diskussionen über Demokratie, der darin besteht, dass verschiedene Typen einst bestehender Gesellschaften oder Gemein­schaften als Demokratie charakterisiert werden, nur weil sie demokratische Formen des Entscheidungs­prozesses (Volksversammlungen) oder wirt­schaftliche Gleichheit besaßen.

 

Demokratie als Prozess der sozialen Selbstinstitution impliziert eine Gesell­schaft, die ideologisch offen ist, also eine Gesellschaft, die nicht auf irgend­einem geschlossenen System von Überzeugungen, Dogmen oder Ideen ba­siert. „Demokratie“, so Castoriadis, ist das Projekt des Aufbrechens der Geschlossenheit auf der kollektiven Ebene.“[117] Daher können in einer de­mokratischen Gesellschaft Dogmen und geschlossene Ideensysteme kein Bestandteil des vorherrschenden sozialen Paradigmas sein, obwohl die einzelnen Individuen natürlich an genau das glauben können, was sie wollen, so lange sie für die Aufrechterhaltung des demokratischen Prinzips eintreten, nämlich des Prinzips, nach dem die Gesellschaft autonom und als vollständige Demokratie institutionalisiert ist.

 

Bezeichnenderweise wurde sogar schon vor 2.500 Jahren im klassischen Athen eine klare Unterscheidung zwischen Religion und Demokratie getroffen. Wie Hansen hervorhebt, „kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Religion im Leben einer griechischen polis genau wie in der italienischen città oder einer deutschen Reichsstadt eine bedeutende Rolle spielte, aber in keinem dieser Fälle hatte der Staat seine Wurzeln oder sein Zentrum in der Religion“.[118] Und auch Castoriadis unterstreicht, dass alle von der ecclesia gebilligten Gesetze mit dem Satz „εδοξε τη Βουλη και τω Δημω“ (dies ist die Meinung des demos) begannen, ohne auf Gott Bezug zu nehmen. Dies steht in scharfem Kontrast zur jüdisch-christlichen Tradition, in der, wie derselbe Autor betont, die Quelle der Gesetze im Alten Testament göttlicher Natur ist: Es ist Jehowa, der Moses die Gesetze gibt.[119] Obwohl also Book­chin zu Recht feststellt, dass „die Festtage der Städte säkulare mit religiösen Themen vermischten, genau wie in den Stadtstaaten der Mayas religiöse Messen von Handelsmessen begleitet waren“,[120] sollten wir auch nicht die von Hannah Arendt (die sich auf Herodot beruft) hervorgehobene Tatsache vergessen, dass im Unterschied zu anderen Religionen, in denen Gott transzendent ist und außerhalb von Zeit, Leben und Universum steht, die griechischen Götter antropophyeis sind, also nicht nur die gleiche Gestalt, sondern auch die gleiche Natur haben wie der Mensch.[121]

 

So wurzelt das demokratische Prinzip nicht in irgendwelchen göttlichen, natürlichen oder gesellschaftlichen „Gesetzen“ oder Tendenzen, sondern in unserer eigenen bewussten und selbstreflektierten Wahl zwischen den beiden großen historischen Traditionen: der Tradition der Heteronomie, die historisch beherrschend gewesen ist, und der Tradition der Autonomie. Aus der Entscheidung für die Autonomie folgt, dass die Institution der Gesell­schaft nicht auf irgendeiner Art von Irrationalismus (Glauben an Gott, my­stische Überzeugungen usw.) oder auf „objektiven Wahrheiten“ über eine in sozialen oder natürlichen „Gesetzen“ wurzelnde soziale Evolution basiert. Das ist deshalb der Fall, weil jedes System religiöser oder mystischer Über­zeugungen (ebenso wie jedes geschlossene Ideensystem) per definitionem die Infragestellung einiger grundlegender Überzeugungen oder Ideen aus­schließt und daher mit einem Zustand unvereinbar ist, in dem die Bürgerinnen und Bürger sich ihre eigenen Gesetze geben. In Wirklichkeit ist das Prinzip der „Nicht-Infragestellung“ einiger grundlegender Überzeugungen jeder Religion und jeder Sammlung metaphysischer und mystischer Überzeugungen vom Chri­stentum bis zum Taoismus gemeinsam. So hat man im Hinblick auf das Christentum zurecht darauf hingewiesen, dass ein sich auf „Jesus“ beru­fende Ethik auf Theologie basiert: Sie ist nicht autonom, d.h., aus den Bedürfnissen menschlicher Individuen oder der Gesellschaft abgeleitet.[122] Auch der (heute von Anarchisten bewunderte!) Taoismus verurteilt aus­drücklich vernünftiges Nachdenken und Argumentieren. („Disputation ist ein Beweis dafür, dass man nicht klar sieht“, erklärt Chuang Tzu).[123]

 

Daher ist das fundamentale Element der Autonomie die Schöpfung unserer eigenen Wahrheit, etwas, was gesellschaftliche Individuen nur durch direkte Demokratie erreichen können: der Prozess, vermittels dessen sie beständig jede Institution, Tradition oder „Wahrheit“ in Frage stellen. In einer Demokratie gibt es schlicht und einfach keine feststehenden Wahrheiten. Die Praxis der individuellen und kollektiven Autonomie setzt Autonomie im Denken voraus, mit anderen Worten, die konsequente Infragestellung von Institutionen und Wahrheiten. Das könnte auch erklären, weshalb im klassischen Griechenland nicht nur die Demokratie aufblühte, sondern auch die Philosophie, im Sinne der Infragestellung sämtlicher durch Brauch, Tradition oder bisheriges Denken vorgegebenen „Wahrheiten“. In Wirklich­keit bildete Infragestellung die gemeinsame Wurzel von Philosophie und Demokratie. Während Volksversammlungen als Form des Entscheidungs­prozesses sowohl vor als auch nach der ecclesia Athens existierten (und in der Regel auf die Stammesversamm­lungen zurückgingen), war die ecclesia Athens genau dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht auf Religion oder Tradition basierte, sondern auf der doxa (Meinung) der Bürger.

 

Deshalb ist es offenkundig fehl am Platz, wenn manche moderne Vertreter libertärer Auffassun­gen verschiedene christliche Bewegungen Europas oder Mysterienreligionen des Ostens als demokratisch charakterisieren. So ist etwa George Woodcocks Berufung auf „Mysterienreligionen, die aus dem Osten auftauchten“, oder die christliche Katharerbewegung des Elften Jahr­hunderts für die demokratische Tradition völlig irrelevant.[124] Ähnlich unan­gebracht sind Peter Marshalls großes Augenmerk auf die philosophischen Strömungen, die das Naturrecht hervorhoben (Kyniker, Stoiker usw.), und sein Herunterspielen der Bedeutung der polis als Form der sozialen Selbst­instituierung und der gleichen Aufteilung der Macht unter den Bürgern.[125] Kein Wunder, dass derselbe Autor ebenso wie viele heutigen Anarchisten statt dessen die Bedeutung mystizistischer und spiritualistischer „philosophischer“ Strömungen des Ostens (Taoismus, Buddhismus usw.) hervorhebt. Aber wie Bookchin, Castoriadis und andere klargemacht haben, haben diese Strömungen nichts mit Demokratie und kollektiver Freiheit zu tun, und erst recht nichts mit Philosophie, hat doch diese immer in der Infragestel­lung jeglicher Art von (menschengemachtem oder natürlichem) Gesetz bestanden statt in der Auslegung der Lehren der Meister. Kein Wunder auch, dass in den nichtdemokratischen Gesellschaften des Ostens, in denen die spiritualistischen Philosophien florierten, die Treue zur Tradition bedeu­tete, dass „neue Ideen oft als die Wiederentdeckung oder korrekte Auslegung früherer Lehren dargeboten wurden ... es ging dabei darum, wie man ein gegebenes System perfektionieren kann, nicht um die Rechtfertigung irgendeines Systems durch die reinen Diktate der Vernunft“.[126]

 

Wenn es aber weder praktikabel noch wünschenswert ist, die Forderung nach Demokratie auf „wissenschaftliche“ oder „objektive“ „Gesetze“ oder „Tendenzen“ zu gründen, die die soziale „Evolution“ zur Realisierung objektiver Potentiale hinleiten, kann diese Forderung nur auf ein Projekt der Befreiung gegründet werden. Ein solches Projekt der Befreiung kann heute nur eine Synthese der demokratischen, der sozialistischen, der libertären, der radikalgrünen und der feministischen Traditionen sein. Mit anderen Worten, es kann nur ein Projekt für eine umfassende Demokratie sein, und zwar im Sinne politischer, wirtschaftlicher, „sozialer“ und ökologischer Demokratie.

Dennoch bedeutet die Tatsache, dass das Projekt der Autonomie nicht objektiv begründet ist, nicht, dass „alles geht“ und dass es unmöglich wäre, eine klar umrissene Reihe von Prinzipien zur Bewertung sozialer und politischer Veränderungen aufzustellen oder eine Reihe ethischer Werte zur Bewertung des menschlichen Verhaltens zu entwickeln. Im Rahmen eines Prozesses, in dem die Prinzipien und Werte ausgearbeitet werden, die mit dem Projekt der Autonomie vereinbar und in diesem Sinne rational sind, bleibt die Vernunft weiter unentbehrlich. Daher bringen die Prinzipien und Werte, die im Lauf eines solchen Prozesses aufgestellt werden, nicht ein­fach persönliche Geschmäcker und Wünsche zum Ausdruck, sondern sind in Wirklichkeit weitaus „objektiver“ als die Prinzipien und Werte, die aus fragwürdigen Interpretationen der natürlichen und sozialen Evolution abgeleitet werden. Die logische Konsistenz vernunftgemäß herausgearbei­teter Prinzipien und Werte mit dem Projekt der Autonomie könnte unzwei­felhaft festgestellt werden, während die „Objektivität“ der evolutionär ab­geleiteten Prinzipien und Werte höchst fragwürdig bleibt.

Weder „Szientismus“ noch „Utopismus“

 

Die Tatsache, dass das Projekt der Befreiung nicht „verwissenschaftlicht“ oder „objektiviert“ werden kann, bedeutet nicht, dass es einfach eine Utopie (oder in seiner ökologischen Version eine Ökotopie) im negativen Sinn des Wortes ist. Ein Projekt der Befreiung ist keine Utopie, wenn es auf der heutigen Realität basiert. Und die Realität von heute lässt sich als eine beispiellose Krise der „Wachstumswirtschaft“ beschreiben, eine politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Krise, die alle gesellschaftlichen Bereiche sowie die Beziehung zwi­schen Gesellschaft und Natur erfasst hat. Ferner ist ein Projekt der Befreiung keine Utopie, wenn es die Unzu­friedenheit bedeutender gesellschaftlicher Sek­toren und ihre explizite oder implizite Kampfansage an die bestehende Gesell­schaft zum Ausdruck bringt. Die bedeutendsten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Institu­tionen, auf denen die gegenwärtige Machtkonzentration basiert, sind heute zunehmend umstritten. Wie wir in Kapitel 4 gesehen haben, sind die grund­legenden politischen Institutionen in vieler Hinsicht umstritten, aber außer­dem werden auch so fundamentale wirtschaftliche Institutionen wie das Pri­vateigentum massiv in Frage gestellt. Die Explosion von Eigentums­delikten im letzten Viertel des Zwanzigsten Jahrhunderts (so hat seit 1979 in Groß­britannien die Zahl der Einbrüche um 160% und die der Autodiebstähle um 200% zugenommen[127]), die trotz der drastischen Verschärfung privater und öffentlicher Sicherheitsmaßnahmen stattfand, ist nicht einfach ein kul­turelles oder vorüber­gehendes Phänomen. Es sollte statt dessen als langfri­stiger Trend betrachtet werden, der das Entstehen massiver Arbeitslosigkeit und massiven Drogenmissbrauchs (die beide ebenfalls systemische Erschei­nungen sind) und die immer größer werdende Unzufriedenheit mit der wachsenden Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung widerspiegelt - einer Un­gleichheit, die im Kontext der gegenwärtigen Kon­sumgesellschaft unerträglich wird.

 

Die Ablehnung der Konzeption des Projekts der Befreiung als „wissenschaftliches“ Projekt oder als Utopie, hat sehr wichtige Folgen für die Form der politischen Organisation. Erstens schließt sie die traditionelle Form hierarchischer radikaler Organisation (die sich aufteilt in die, „die Bescheid wissen“ und daher ein automatisches Recht auf die Führung haben, und die, für die das nicht gilt) aus. Zweitens schließt sie die verschiedenen Lifestyle-Strategien aus, die eine direkte Einmischung in den politischen Prozess ausdrücklich verwerfen. In diesem Zusammenhang könnte man sinnvoll zwischen einem wissenschaftlichen Projekt und einem Programm sowie zwischen Politik und Technik unterscheiden.

 

Was das Programm angeht, ist klar, dass wir zwar auf ein Programm im Sinn einer „provisorischen und fragmentarischen Konkretisierung der Ziele des Projekts“ nicht verzichten können,[128] aber aus den bereits genannten Gründen ganz bestimmt kein „wissenschaftliches“ Projekt brauchen. Die An­hänger „wissenschaftlicher“ Projekte in der Politik sind (ebenso wie die „Öko-topisten“) tatsächlich gegen demokratische Politik, wie wir sie in Kapitel 5 definiert haben. Der Grund für diese Feindseligkeit liegt in der verbreiteten Unfähigkeit, eine klare Unterscheidung zwischen Politik und Technik zu treffen. Diese Unfähigkeit ist ein gemeinsames Kennzeichen jeder hierarchischen Konzeption von Politik, wie die folgende versimpelte Darstellung marxistischer Politik klar zeigt:

Wenn wir für komplexere Gegenstände wie Flugzeuge, Brücken und ähnliches eine oder mehrere Wissenschaften brauchen, dann brauchen wir, um eine neue Gesellschaft hervorzubringen, die anders ist als die, unter der wir heute leiden, die modernste und fortgeschrittenste Wissenschaft überhaupt, da sie mit dem komplexesten Organismus und den komple­xesten Materialien, Strukturen und Funktionen fertig werden muss.[129]

In dieser Aussage steckt die Annahme, dass wir angesichts der Tatsache, dass die Ingenieurswissenschaft unter Nutzung der wissenschaftlichen Ge­setze von Physik oder Chemie die heutigen Wunder der Technologie her­vorbringt, auf dieselbe Art die „wissenschaftlichen“ Gesetze des Marxismus nutzen können, um eine andere Gesellschaft zu schaffen. Abgesehen von der von uns bereits diskutierten, höchst umstrittenen Frage, ob die Ent­wicklung einer solchen - marxistischen oder sonstigen - Wissenschaft der sozialen Veränderung überhaupt möglich ist, liegt auf der Hand, dass dieser Auffassung eine Konzeption von Politik zugrunde liegt, die völlig unver­einbar mit individueller oder sozialer Autonomie ist.

 

In diesem Zusammenhang ist Castoriadis’[130] Unterscheidung zwischen Po­litik als einer Technik und Politik als Praxis sehr nützlich. Eine Technik ist eine „rein rationale“ Aktivität, die sich auf erschöpfendes (oder so gut wie erschöpfendes) Wissen über ihren Bereich stützt. Wenn man daher, so derselbe Autor, „verlangt, dass sich das revolutionäre Projekt auf eine voll­ständige Theorie gründet, heißt das, dass man Politik mit einer Technik gleichsetzt“. Aber in der ursprünglichen griechischen Bedeutung des Wor­tes gehört Politik einem anderen Bereich, nämlich der Domäne der Praxis an, „welche die Entwicklung der Autonomie als Ziel ansieht und die Auto­nomie als Mittel zu diesem Zweck ansieht ..., in der die anderen als autonome Wesen und als die wesentlichen Faktoren zur Entwicklung ihrer eigenen Autonomie angesehen werden“.[131] Obwohl Praxis also eine be­wusste Aktivität ist, kann sie sich nur auf ein bruchstückhaftes Wissen stützen, weil es niemals ein erschöpfendes Wissen über die Menschen und ihre Geschichte geben kann, und zudem wird dieses Wissen immer pro­visorisches Wissen sein, weil Praxis beständig dazu führt, dass neues Wis­sen entsteht. Wenn also das Ziel der Politik nicht in der Manipulation von Wählern und der Ausübung von „Staatshandwerk“ besteht, sondern in der autonomen Aktivität autonomer Individuen bei der Regelung ihrer Angele­genheiten, dann brauchen wir ein Programm, und nicht eine marxistische oder irgendeine sonstige „Wissenschaft“ mit ihren „ehernen“ Gesetzen und der „Ingenieursauffassung“ von Politik, die dies mit sich bringt.

 

Weder genereller Relativismus noch Irrationalismus

 

Unsere Ablehnung des (marxistischen oder sonstigen) Szientismus sollte uns jedoch nicht in die entgegengesetzte Falle des generellen Relativismus und Irrationalismus gehen lassen. Was den Relativismus betrifft, sollten wir die wichtige Unterscheidung zwischen politischem und demokratischem Re­lativismus auf der einen und philosophischem Relativismus auf der anderen Seite treffen. Es ist völlig klar, dass demokratischer Relativismus,[132] d.h. die Auffassung, dass sämtliche Traditionen, Theorien, Ideen usw. von allen Bürgerinnen und Bürgern debattiert und entschieden werden müssen, ein essentielles Element der Demokratie ist. Dasselbe gilt für den politischen Relativismus, d.h., die Auffassung, der zufolge alle Traditionen dieselben Rechte haben. Andererseits gibt es starke Argumente gegen den philosophischen Relativismus, d.h., die Auffassung, der zufolge alle Traditionen den gleichen Wahr­heitswert haben, etwa in dem Sinne, dass sie alle als gleichermaßen wahr oder falsch akzeptiert werden. Das gilt besonders dann, wenn der philo­sophische Relativismus in Widerspruch zum demokratischen Relativismus steht.[133]

 

Obwohl man also die postmoderne Auffassung akzeptieren mag, nach der Geschichte nicht als linearer (Kant et al.) oder dialektischer (Hegel, Marx), Vernunft verkörpernder Prozess des Fortschritts angesehen werden kann, heißt das nicht, dass wir allen historischen Formen gesellschaftlicher Or­ganisation den gleichen Wert beimessen sollten: vom klassischen Athen, den Schweizer Kantonen und den Pariser Sektionen bis zu den gegenwär­tigen „demokratischen“ Regimes. Diese Art von generellem Relativismus, wie ihn sich der Postmodernismus zu eigen macht, bringt, wie Castoriadis[134] richtig hervorgehoben hat, lediglich dessen Abgehen von jeglicher Kritik an der institutionalisierten sozialen Realität und seinen generellen Rückzug auf den Konformismus zum Ausdruck.

 

Mit anderen Worten, man kann der Tradition der Autonomie und der Tradi­tion der Heteronomie nicht denselben Wert zusprechen, da ein Akzeptieren der letzteren den demokratischen Relativismus selbst ausschließt. Schon die bloße Möglichkeit der Institution des demokratischen Relativismus basiert auf der vorherigen Ablehnung des philosophischen Relativismus: Es muss also eine bewusste Wahl zwischen diesen beiden Traditionen und den Konzeptionen von Politik, die aus ihnen folgen, getroffen werden. Nur so kann man den Fallstricken des Szientismus und Objektivismus entgehen, ohne in die postmoderne Falle eines generellen Relativismus zu gehen, der allen Traditionen den gleichen Wert zuspricht.

 

Aber sobald wir eine Wahl zwischen den beiden Haupttraditionen getroffen haben, mit anderen Worten, sobald wir den Inhalt des Projekts der Befrei­ung über die Tradition der Autonomie definiert haben, folgen daraus, wie wir oben gesehen haben, einige wichtige Schlüsse auf der ethischen Ebene und auf der Ebene der Interpretation. So kann man beispielsweise bei der Interpretation der ökologischen Krise, ihrer Ursachen und der durch letztere bedingten Lösungen unmöglich jenen besonderen Pluralismus akzeptieren, wie ihn etwa Naess[135] vorschlägt, da schon aus der Entscheidung für die autono­me Tradition selbst eine ganz spezifische Menge von Interpretatio­nen, nämlich solcher, die mit ihr vereinbar sind, folgt. Unabhängig davon, ob wir die orthodoxe oder die dialektische oder überhaupt keine Methode wählen, zwingt uns daher unsere Entscheidung für die autonome Welt­sicht, die Wurzeln der ökologischen Krise (wie die Sozialökologie) in den hierarchischen gesellschaftli­chen Beziehungen und Strukturen zu sehen, die so lange vorherrschend waren, und nicht (wie diverse Umweltschützer, die Tiefenökologen und andere) in der Beziehung zwischen einer undifferen­zierten „Gesellschaft“ und der Natur. Aus demselben Grund sollten (liberale oder sozialdemokratische) umweltschützerische, mysti­sche und metaphysi­sche „Lösungen“ des ökologischen Problems abgelehnt werden, nicht weil sie nicht mit irgendwelchen angeblich „objektiven“, ge­sellschaftlichen oder natürlichen Prozessen vereinbar sind, sondern weil sich zeigen lässt, dass sie mit sozialer und individueller Autonomie, das heißt, mit Freiheit selbst unvereinbar sind. Das Problem ist daher heute nicht, sich entwe­der den ge­nerellen Relativismus, einen Standpunkt, der leicht zu einem post­modernen Konformismus führt, oder aber irgendeine Art von „Objektivismus“ zu eigen zu machen. Was heute fehlt, ist nicht eine neue „objektive“ Recht­fertigung des Projekts der Befreiung, sondern der politische Wille, es zu definieren und an seiner Verwirklichung teilzunehmen!

Eine weitere wichtige Frage, die sich stellt, sobald wir Szientismus und Objektivismus einmal zurückgewiesen haben, ist die, wie wir dem Rückzug auf diverse Arten von Irrationalismus entgehen können, die derzeit (z.B. in Gestalt der Tiefenökologie) in der grünen Bewegung, der feministischen Bewegung (ei­nige Versionen des Ökofeminismus) und anderen Bewe­gungen zuhauf grassie­ren. Es ist ja bekannt, dass sowohl im Norden (in Form einer Wiederbelebung der alten Religionen, des Imports einiger spiri­tualisti­scher „Früchte“ wie des Taoismus, von dem einige angel­sächsische Anarchisten beeinflusst sind, aus dem Osten usw.) als auch im Süden (mus­limischer Fundamentalismus) häufig diverse Versionen des Irrationalismus und Spiritualismus Verbreitung finden.

Meiner Ansicht nach schließt der oben vorgeschlagene Standpunkt zum Relativismus in Verbindung mit der bewussten Entscheidung für die auto­nome Tradition, wie sie aus dem demokratischen Relativismus folgt, alle Formen von Irrationalismus aus, und zwar deshalb, weil das allen Formen des Irrationalismus gemeinsame Kennzeichen darin besteht, dass sie sich sämtlich außerhalb des Feldes des logon didonai (Rechenschaftslegung und Vernunft) befinden, aus dem, wie Castoriadis es ausdrückt, „schon an sich die Anerkennung des Wertes der Autonomie in der Sphäre des Denkens folgt“,[136] die synonym mit der Vernunft selber ist. In diesem Sinn ist Wis­senschaft, richtig verstanden, eine Form des logon didonai. Vom demokra­tischen Stand­punkt aus liegt die Essenz der Wissenschaft nicht in ihrem Inhalt, obwohl natürlich die Naturwissenschaften durch die Förderung einer säkularen Herangehensweise an die Realität eine wichtige befreiende Rolle bei der Unterminierung religiöser und metaphysischer Überzeugungen ge­spielt ha­ben. Statt dessen liegt die Essenz der Wissenschaft in der bestän­digen Infrage­stellung von Wahrheiten, d.h., in der Prozedur, die sie bei der Findung der Wahrheit verwendet. Daher ist die Wissenschaft, obwohl sie vom Standpunkt ihres Inhalts (und ihrer technologischen Anwendungen) sowohl Autonomie als auch Heteronomie fördern kann (angesichts der meist vorherrschenden heteronomen Institutionen der Gesellschaft, die die Entwicklung der Gesell­schaft konditionieren, zumeist letzteres), vom Stand­punkt ihrer Vorgehens­weisen historisch ein Ausdruck von Autonomie ge­wesen. Dies wiederum hängt mit dem entscheidenden Unterschied zwischen den von Wissenschaft­lern bei der Findung wissen­schaftlicher „Wahrheiten“ verwendeten Proze­duren und den Methoden zusammen, die von Propheten, Kirchenvätern und Gurus verschiedenster Art zur Erzeugung von Glaubens­inhalten, Dogmen, mystischen „Wahrheiten“ usw. verwendet werden. Schon die Tatsache, dass die wissenschaftlichen Prozeduren zur Auffindung und Bewertung von „Wahrheiten“ sich im Lauf der Zeit so drastisch gewandelt haben, ist ein klarer Hinweis auf die autonome Natur der wis­senschaftlichen Methode. Wissenschaftliche „Wahrheiten“ sind ebenso wie die zu ihrer Ableitung verwendeten Prozeduren und im Gegensatz zu sämtlichen mystischen, intui­tiven und irrationalen „Wahrheiten“ und Proze­duren Gegenstand beständiger Infragestellung und kritischer Bewertung.

 

Aus demselben Grund folgt aus der Tatsache, dass Autonomie keine „in­dividuelle“ Frage und „entscheidend von der Institution der Gesellschaft konditioniert“[137] ist, dass das Projekt der Autonomie nur durch die autono­me Aktivität der Menschen realisiert werden kann, und zwar in einem Pro­zess der Schaffung sozialer Institutionen, die autonomes Denken möglich machen, und nicht durch irgendeinen spirituellen Prozess der „Selbstver­wirklichung“, wie es etwa die Tiefenökologen[138] glauben machen wollen. In Wirklichkeit könnte ein solcher Prozess der Selbstverwirklichung nur das Private und den Rückzug aus dem sozialen Prozess, der die Gesellschaft instituiert, verstärken. Eine auf der Herrschaft des Menschen über den Menschen beruhende hierarchische Gesell­schaft könnte die (meist innerhalb der Mittelklasse stattfindende) Selbsttrans­formation in Form der Erleuch­tung durch den Mahayana-Buddhismus oder eines wiedergeborenen Chri­stentums problemlos überleben. Es ist jedenfalls kein Zufall, dass die dahin gehende Selbst­transformation von Millionen von Amerikanern und West­europäern im Lauf der letzten zehn Jahre vollkommen vereinbar war mit einer der wütendsten Attacken der herrschenden Eliten in Form der neoliberalen Politik (Reaganomics, Thatcherismus usw.).

 

Schluss: Für einen demokratischen Rationalismus

 

Um zu schließen: In dem Prozess, der uns einer umfassenden Demokratie näher bringt, haben weder „Objektivismus“ noch Irrationalismus irgendeine Rolle zu spielen. Wie ich in diesem Kapitel zu zeigen versucht habe, ist Demokratie unvereinbar mit „objektivistischen“ Typen des Rationalismus nach Art derer, die wir von der Aufklärung geerbt haben. Sogar noch unvereinbarer ist Demokratie mit irrationalen Systemen, die esoterisches Wissen für sich beanspruchen, ganz gleich, ob dies aus mystischer Erfah­rung, Intuition oder Offenbarung stammt. Demokratie ist nur mit einem demokratischen Rationalismus vereinbar, einem Rationalismus, der auf De­mokratie als Struktur und Prozess der sozialen Selbstinstituierung, wie wir ihn oben definiert haben, beruht.

 

Wenn daher unser Ziel eine Synthese der autonom-demokratischen, libertär-sozialistischen, radikal-grünen und feministischen Traditionen ist, meine ich, dass unser Ausgangspunkt die Tatsache sein sollte, dass das sozial-imaginäre oder kreative Element bei sozialen Veränderungen eine entschei­dende Rolle spielt. Daraus folgt, dass das Projekt der Demokratie sich nur auf unsere eigene bewusste Wahl zwischen der heteronomen und der auto­nomen Tradition gründen kann.

 

Durch diese Denkweise können wir meiner Ansicht nach die Fallen sowohl des Objektivismus als auch des Relativismus vermeiden. Sie verfällt nicht in Objektivismus, weil das Projekt der Befreiung nicht „objektiviert“ wird: Demokratie wird nicht durch eine Berufung auf objektive Tendenzen im Bereich der sozialen oder natürlichen Evolution gerechtfertigt, sondern durch einen Appell an die Vernunft in Begriffen des logon didonai, der den Gedanken einer Direktionalität im Bereich der sozialen Veränderung aus­drücklich negiert. Sie vermeidet aber auch den Relativismus, weil sie ausdrücklich die Auffassung negiert, nach der alle Traditionen - wie in diesem Fall die der Autonomie und der Heteronomie - den gleichen Wahr­heitswert besitzen. Mit anderen Worten, indem wir davon ausgehen, dass Autonomie und Demokratie nicht „bewiesen“, sondern nur postuliert werden können, bewerten wir Autonomie und Demokratie höher als Hetero­nomie, weil es, obwohl beide Traditionen wahr sind, gerade Autonomie und Demokratie sind, die wir mit Freiheit identifizieren, und weil wir Freiheit als das höchste menschliche Ziel betrachten.


 

[1] Cornelius Castoriadis, „This era of general conformism“, Vorlesung an de Boston University am 19. September 1989 bei einem Symposion unter de Motto „Eine Metapher für unsere Zeit“.

[2] Paul Feyerabend, Farewell to Reason (London: Verso, 1987), S. 306.

[3] Für eine Definition des Projektes der Befreiung in Begriffen sozialer und individueller Autonomie siehe Cornelius Castoriadis, L’institution Imaginaire de la Societé (Paril: Seuil, 1975), Kapitel 2. Deutsch ders., Die Gesellschaft als imaginäre Institution (Frankfurt a.M: Suhrkamp, 1984).

[4] Murray Bookchin, The Philosophy of Social Ecology. Essays on Dialectical Naturalism (Montreal: Black Rose Books, 1995), S. 129.

[5] Siehe D.W. Hamlyn, The Theory of Knowledge (London: Macmillan, 1970) und Frederick Copleston, A History of Philosophy (London: Search Press, 1976).

[6] Frederick Copleston, A History of Philosophy, Vol. IV, S. 17.

[7] D.W. Hamlyn, The Theory of Knowledge, S. 132-36.

[8] Thomas Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions (University of Chicago Press, 1970), S. 191-98.

[9] Murray Bookchin, The Philosophy of Social Ecology, S. 114, 130.

[10] Siehe den Artikel von I. Lakatos „Falsification and the methodology of scientific research programmes“ in Criticism and the Growth of Knowledge, Lakatos und Musgrave (Cambridge: Cambridge University Press, 1970), S. 93-103.

[11] H. Katouzian, Ideology and Method in Economics (London: Macmilla, 1980), S. 53.

[12] Lakatos und Musgrave, The Growth of Knowledge, S. 100.

[13] Lakatos und Musgrave, The Growth of Knowledge, S. 103.

[14] P. Feyerabend, „Consolations for the specialist“ in The Growth of Knowledge, Lakatos and Musgrave, S. 197-231.

[15] P. Feyerabend, „Consolations for the specialist“, S. 215.

[16] P. Feyerabend, Farewel to Reason, S. 9.

[17] D.W. Hamlyn, The Theory of Knowledge, S. 140.

[18] M. Masterman, „The nature of paradigm“ in The Growth of Knowledge, Lakatos und Musgrave, S. 59-91.

[19] Th. Kuhn, The structure of scientific Revolutions, S. 175.

[20] Siehe z.B. Kuhns Postskript in den späteren Ausgaben von Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, fener auch seine Beiträge in The Growth of Knowledge, Lakatos und Musgrave.

[21] M. Blaug, The Methodology of Economics (Cambridge: Cambridge University Press, 1980), S. 30.

[22] P. Feyerabend, Science in a Free Society (London: Verso, 1978), S. 66.

[23] Th. Kuhn, The structure of Scientific Revolutions, S. 94.

[24] P. Feyerabend, Farewell to Reason, S. 8.

[25] Für eine Diskussion des „wissenschaftlichen“ Charakters der Wirtschaftswissenschaft siehe z.B. T.W. Hutchinson, Knowledge and Ingnorance in Economics (Oxford: Basil Blackwell, 1977); Daniel Bell und Irving Kristol, The Crisis in Economic Theory (New York: Basic Books, 1981); Homa Katouzian, Ideology and Method in Economics (London: Macmillan, 1980); Warren J. Samuels (Hg.), The Methodology of Economic Thought (New Brunswick und London: Transaction Books, 1980).

[26] Lucien Goldmann, Immanual Kant (London: New Left Books, 1971), S. 19.

[27] L. Goldmann, Immanuel Kant, S. 53.

[28] Murray Bookchin, „Recovering evolution: a reply to Eckersley and Fox“, Environmental Ethics, Vol. 12 (1990), S. 2.

[29] Murray Bookchin, The Philosophy of Social Ecology, S. 129.

[30] M. Bookchin, The Philosophy of Social Ecology, S. 25.

[31] C. Castoriadis, L’Institution Imaginaire, S. 49-50.

[32] C. Castoriadis, Philosophy, Politics, Autonomy (Oxford: Oxford University Press, 1991), S. 104-105.

[33] Barry Hindess und Paul Q. Hirst, Pre-Capitalist Modes of Production (London: Routledge & Kegan Paul, 1975), S. 313-23. Siehe auch Anthony Cutler, Barry Hindess et al., Marx’s Capital and Capitalism Today (London: Routledge & Kegan Paul, 1977), Kapitel 4.

[34] Karl Marx, Vorwort zur ersten deutschen Ausgabe von Das Kapital, in Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Band 23 (Berlin: Dietz Verlag, 1972), S. 12, 16.

[35] Wladimir Lenin, „Was sind die ‚Volksfreunde’ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten“, in Werke, Band 1 (Berlin: Dietz Verlag, 1972), S. 130, 129.

[36] C. Castoriadis, L’Institution Imaginaire, S. 76-84.

[37] Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Band 3 (Berlin: Dietz, 1973), S. 535. Hervorhebung von Marx.

[38] Louis Althusser, Reading Capital (London: New Left Books, 1970).

[39] Gregor McLennan, Marxism and the Methodologies of History (London: New Left Books, 1981/1987), S. 22.

[40] George Lukacs, History and Class Consciousness (London: Merlin Press, 1971), S. 1.

[41] G. McLennan, Marxism and the Methodologies of History, S. 15.

[42] C. Castoriadis L’Institution Imaginaire, S. 13-20.

[43] Zitiert in G. McLennan, Marxism and the Methodologies of History, S. 167.

[44] George Lukacs, „Technology and social relations“, New Left Review, Nr. 39 (1966), S. 33.

[45] Peter Binns, „The Marxist Theory of Truth“, Radical Philosophy, Nr. 4 (Frühjahr 1973), S. 5.

[46] P. Binns, „The Marxist Theory of Truth“, S. 8.

[47] Anthony Collier, „Truth and practice“, Radical Philosophy (Sommer 1973), S. 10.

[48] Leszek Kolakowski, Marxism and Beyond, S. 59, zitiert in „Truth and practice“, A. Collier, S. 10.

[49] C. Castoriadis, L’Institution Imaginaire, S. 40-45.

[50] Siehe z.B. Paul Sweezy, „Toward a critique of economics“, in seinem Buch Modern Capitalism and Other Essays (New York: Monthly Review Press, 1972).

[51] Für eine Kritik dieser Position siehe G. McLennan, Marxism and the Methodologies of History, S. 15.

[52] Siehe Leszek Kolakowski, Main Currents of Marxism (Oxford: Oxford University Press,1981), Vol. 1, S. 181.

[53] Die Erklärung des Wissens in Lenins Materialismus und Empiriokritizismus kommt, wie G. McLennan in Marxism and the Methodologies of History, S. 11 ausführt, einem schlichten Empirismus gefährlich nahe.

[54] Siehe Michio Morishima und Heorge Cathepores, Value, Exploitation and Growth (London: McGraw-Hill, 1978), S. 297.

[55] Max Weber, The Methodology of Social Sciences (Illinois: Glance, 1949), Kapitel 1.

[56] Für eine weitere Kritik dieser Lösung von einem anderen Standpunkt aus siehe Leszek Kolakowski, Main Currents of Marxism, Vol. 1, S. 315-16.

[57] Leszek Kolakowski, Main Currents of Marxism, Vol. 1, S. 322-24.

[58] Auch G. McLennan stimmt dieser Klassifikation zu: „Sofern es substantielle Themen des historischen Materialismus berührt, kann Althussers Projekt als ‚Rationalismus’ beschrieben werden;: G. McLennan, Marxism and the Methodologies of History, S. 28.

[59] L. Althusser, Reading Capital, S. 52-56.

[60] L. Althusser, Reading Capital, S. 59.

[61] G. McLennan, Marxism and the Methodologies of History, S. 27.

[62] G. McLennan, Marxism and the Methodologies of History. Siehe auch P. Binns, „The Marxist theory of truth“.

[63] P. Binns, „The Marxist theory of truth“, S. 8.

[64] C. Castoriadis, L’Institution Imaginaire, S. 57-58.

[65] C. Castoriadis, L’Institution Imaginaire, S. 72-73.

[66] C. Castoriadis, L’Institution Imaginaire, S. 90.

[67] C. Castoriadis, L’Institution Imaginaire, S. 184-90.

[68] Louis Althusser und Etienne Balibar, Reading Capital (London: New Left Books, 197), S. 180.

[69] Siehe Roy Bhaskar, A Realist Theory of Science (Leeds: Leeds Books, 1975); Gregor McLennan, Marxism and the Methodologies of History; und für eine postmarxistische Kritik dieses Zugangs siehe Nikos Mouzelisd, Post-Marxist Alternatives. The Construction of Social Orders (London: Macmillan, 1990).

[70] R. Bhaskar, A Realist Theory of Science, S. 250.

[71] R. Bhaskar, A Realist Theory of Science, S. 248.

[72] G. McLennan, Marxism and the Methodologies of History; S. 32.

[73] In einer Kritik am realistischen Marxismus aus einer anderen Perspektive argumentiert Mouzelis, die marxistische Perspektive sei unabhängig von der erkenntnistheoretischen Sicht, die sie einnimmt, unfähig, das Dilemma „Essentialismus oder Empirismus“ zu überwinden; M. Mouzelis, Post-Marxist Alternatives, S. 29.

[74] Siehe zum Beispiel Albert Bergesen, „Deep ecology and moral community“ in Rethinking Materialism, Robert Wuthnow (Hg.) (New York: Erdmanns, 1995).

[75] Siehe M. Bookchin, The Philosophy of Social Ecology.

[76] M. Bookchin, The Philosophy of Social Ecology, S. 20.

[77] M. Bookchin, The Philosophy of Social Ecology, S. 17.

[78] M. Bookchin, The Philosophy of Social Ecology, S. 31.

[79] M. Bookchin, Remaking Society (Montreal: Black Rose Books, 1989), S. 25.

[80] M. Bookchin, The Philosophy of Social Ecology, S. xii.

[81] M. Bookchin, The Philosophy of Social Ecology, S. xi.

[82] C. Castoriadis, Philosophy, Politics, Autonomy, S. 268-69.

[83] Siehe z.B. Stuart A. Kaufmann, The Origins of Order: Self-organization and Selection in Evolution (Oxford: Oxford University Press, 1993).

[84] C. Castoriadis, Philosophy, Politics, Autonomy, S. 104-105.

[85] C. Castoriadis, Philosophy, Politics, Autonomy, S. 34.

[86] Peter Marshall, Nature’s Web (London: Simon & Schuster, 1992), S. 426.

[87] M. Bookchin, The Philosophy of Social Ecology, S. 79.

[88] Siehe zum Beispiel John M. Gowdy, „Progeress and environmental sustainability“, Environmental Ethics, Vol. 16, Nr. 1 (Frühjahr 1994).

[89] Zur die Nicht-Neutralität der Technologie siehe Frances Stewart, Technology and Under­development (London: Macmillan, 1978).

[90] Amnesty International, A Glimpse of Hell (London: Cassell/Amnesty International UK, 1996).

[91] Karl Polyani. The Great Transformation (Boston: Beacon Press, 1957), Kapitel 14-15.

[92] Konstantinos Kavoulakos, „The relationship of realism and utopianism in the theories of democracy of Jürgen Habermas and Cornelius Castoriadis“, Society and Nature, Vol. 2, Nr. 3 (1994), S. 74. Siehe auch N. Bobbio, „Science, power and freedom“, Eleftherotypia, 18. September 1995.

[93] Siehe J. Gowdy, „Progess and environmental sustainability“.

[94] Siehe C. Castoriadis, „The era of generalized conformism“.

[95] Cornelius Castoriadis, „The West and the Third World“, Vorlesung in Heraklion (Kreta), März 1991, in The Broken World, Cornelius Castoriadis (Athen: Upsilon Books, 1992), S. 79.

[96] Für eine klassische Beschreibung der mittelalterlichen freien Städte siehe Peter Kropotkin, Mutual Aid (London, 1902) CBS. V & V. Deutsch ders., Gegenseitige Hilfe (Trotzdem: Grafenau, 1989).

[97] Murray Bookchin, persönliche Mitteilung an den Autor (24.02.1994).

[98] Murray Bookchin, From Urbanization to Cities (London: Cassell, 1995), S. 111-16.

[99] Siehe Sam Dolgoff (Hg.), The Anarchist Collectives: Workers’ Self-management in the Spanish Revolution 1936-39 (New York: Free Life Editions, 1974).

[100] Das sollte indes nicht nach Art einiger heutiger Tiefenökologen missverstanden werden, die meinen, dass die Gesellschaft sich nur durch Veränderung unserer Werte oder „imaginärer Signifikationen“ auf der individuellen Ebene verändern wird. Der Wandel der Werte hat eine soziale Bedeutung für radikale soziale Umgestaltungen, wenn er das Ergebnis eines kollektiven Kampfes ist, der seinerseits Teil eines umfassenden politischen Programms ist, das den institu­tionellen Rahmen und das vorherrschende soziale Paradigma explizit in Frage stellt.

[101] C. Castoriadis, Philosophy, Politics, Autonomy, S. 36-38.

[102] „Was in einer Eichel, die einen Eichbaum hervorbringt oder in einem Embryo, der einen erwachsenen Menschen hervorbringt, potentiell angelegt ist, ist äquivalent zu dem, was in der Natur, welche die Gesellschaft hervorbringt, und zu dem, was in der Gesellschaft, welche Freiheit, Selbst und Bewusstsein hervorbringt, angelegt ist“, Murray Bookchin, The Modern Crisis (Montreal: Black Rose Books, 1987), S. 13.

[103] C. Castoriadis, Philosophy, Politics, Autonomy, S. 88.

[104] M. Bookchin, The Philosophy of Social Ecology, S. 157-70.

[105] Siehe z.B. Shlomo Avineri (Hg.), Karl Marx on Colonialism and Modernization (New York: Anchor Books, 1969), S. 13 und Anthony Brewer, Marxist Theories of Imperialism (London: Routledge & Kegan Paul, 1980), S. 18.

[106] Siehe G.P. Maximoff (Hg.), The Political Philosophy of Bakunin (New York: The Free Press, 1953), S. 145. Siehe auch M. Bookchin, The Philosopy of Social Ecology, S. vxi.

[107] M. Bookchin, Ecology of Freedom (Montreal: Black Rose Books, 1991), S. 274. Deutsch siehe Kapitel 2, Fußnote 28.

[108] Siehe etwa die Kritik, die von einer Reihe von Ökosozialisten gegen den dialektischen Naturalismus vorgebracht wird; so etwa David Pepper, Eco-Socialism: From Deep Ecology to Social Justice (London: Routledge, 1993), S. 165, Andrew Light, „Rereading Bookchin and Marcuse as environmental materialists“, Capitalism, Nature, Socialism, Nr. 3 (März 1993) und ders., „Which side are you on? A rejoinder to Murray Book­chin“, Capitlism, Nature, Socialism, Nr. 4 (Juni 1993). Siehe auch die von Tiefenökologen wie Robyn Eckersley vorgebrachte Kritik: Robyn Eckersley, „Divining evolution: the ecological ethics of Murray Bookchin“, Environmental Ethics, Vol. 11, Nr. 2 (Sommer 1989).

[109] Die Debatte zwischen Bookchin und Fox/Ecersley ist ein deutliches Beispiel solcher Unvereinbarkeit. Siehe R. Eckersley, „Divining evolution: the ecological ethics of Murray Bookchin“ und M. Bookchin, „Recovering evolution: a reply to Eckersley and Fox“.

[110] P. Feyerabend, Farewell to Reason, S. 75.

[111] Cornelius Castoriadis, „The end of philosophy?“ in The Talks in Greece (Athen: Upsilon, 1990), S. 23.

[112] Herbert Marcuse, Soviet Marxism (London: Routledge, 1958), S. 145.

[113] W.I. Lenin, Was tun? In Werke, Band 5 (Berlin: Dietz, 1973), S. 355-551, hier S. 394-96 u.a.

[114] H. Marcuse, Soviet Marxism, S. 147.

[115] C. Castoriadis, The Talks in Greece, S. 126.

[116] Cynthia Farrar in einem Kommentar zum Denken des sophistischen Philosophen Prota­goras. Siehe ihren Artikel „Ancient Greek political theory as a response to democracy“ in Democracy, the Unfinished Journey, 508 BC to AD 1993, John Dunn (Hg.) (Oxford: Oxford University Press, 1992),S. 24.

[117] C. Castoriadis, Philosophy, Politics, Autonomy, S. 21.

[118] Mogens Herman Hansen, The Athenian Democracy in the Age of Demosthenes (Oxford: Blackwell, 1991), S. 64.

[119] Cornelius Castoriadis, „The problem of democracy today“, Democracy and Nature, Vol. 3, Nr. 2 (1996), S. 23.

[120] Murray Bookchin, Re-enchanting Humanity (London: Cassel, 1995), S. 249.

[121] Hannah Arendt, The Human Condition (Chicago: The University of Chicago Press, 1958), S. 18. Deutsch: Vita activa oder vom tätigen Leben (München: Piper, 1967), S. 28-29.

[122] Paul J. Achtemeier (Hg.), Harper’s Bible Dictionary (San Francisco: Harper & Row, 1985), S. 481.

[123] Zitiert in Fritjof Capra, The Tao of Physics (London: Fontana, 1983), S. 126.

[124] „Es ist jedoch gut möglich, dass die Tradition der Demokratie in der nachgriechischen Welt ihre unerkannten Wurzeln unter der Katharern hatte“: George Woodcock, „Democracy, heretical and radical“, Our Generation, Vol. 22, Nr. 1-2 (Herbst 1990-Frühjahr 1991), S. 115-16.

[125] Peter Marshall, der irrtümlich Nomos (d.h. die Gesetze der polis) mit Brauch und Konvention gleichsetzt, weist darauf hin, dass „die Kyniker des dritten Jahrhunderts dem Anarchismus sogar noch näher kamen ... nur sie lehnten Nomos zugunsten von Physis ab; sie wollten ausschließlich ‚der Natur gemäß’ leben, ... weil die griechische Polis auf der Herrschaft von Brauch und Konvention basierte, negierten die Kyniker durch die Ablehnung von Nomos das Recht der etablierten Autorität, ihrem Handeln Grenzen zu ziehen“: Peter Marshall, Demanding the Impossible (London: HarperCollins, 1992), S. 68.

[126] G.E.R. Lloyd, „Democracy, philosophy and science in Ancient Greece“ in Democracy, John Dunn (Hg.), S. 55.

[127] John Prescott, Sprecher der Labour-Abgeordneten, an die Adresse Michael Heseltines, Unterhaus, 29. Januar 1996 (The Guardian, 30. Januar 1996).

[128] C. Castoriadis, L’Institution Imaginaire, S. 106.

[129] Thanasis Kalomalos, „The crisis of Left politics and Karl Marx“, Society and Nature, Vol. 2, Nr. 1 (1993), S. 175.

[130] C. Castoriadis, L’Institution Imaginaire, S. 97-109.

[131] C. Castoriadis, L’Institution Imaginaire, S. 103.

[132] P. Feyerabend, Farewell to Reason, S. 59.

[133] Sogar Feyerabend, ein entschiedener Anhänger des Relativismus, geht nicht soweit, den philosophischen Relativismus zu übernehmen; P. Feyerabend, Science in a Free Society, S. 82-83.

[134] C. Castoriadis, „The era of generalized conformism“.

[135] Arne Naess, „Deep ecology and ultimate premises“, The Ecologist, Vol. 18, Nr. 4/5 (1988).

[136] C. Castoriadis, „The crisis of Marxism and the crisis of politics“, Society and Nature, Vol. 1, Nr. 2 (1992), S. 209.

[137] C. Castoriadis, „The crisis of Marxism and the crisis of politics“, S. 209.

[138] Laut Naess, dem Vater der Tiefenökologie, ist „die Identifikation mit anderen um so breiter und tiefer, je umfangreicher die von jedermann erreichte Selbstverwirklichung ist“, Arne Naess, Ecology, Community and Lifestyle (Cambridge: Cambridge University Press, 1989), S. 196.

 


 

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